Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
Das jahrelange Schattendasein der Digital Natives war plötzlich von Interesse für die Mächtigen. Und warum? Weil das Netz nicht so tickt, wie sie das gerne hätten. Und weil es ihre Welt bedroht. Wenn anx nachts stundenlang im Chat Dinge mit und für Wikileaks tat, dann war jade stolz. Sie hoffte, dass Wikileaks die Welt besser machen würde. Transparenter. Dass die Aktivitäten korrupter Verbrecher, die ihre Macht missbrauchen, aufgedeckt würden. Endlich könnte es Dokumente geben, die die Verstrickungen der Geheimdienste nachweisen. Endlich würde es jeder glauben müssen. Endlich gäbe es Beweise.
Wikileaks ist gescheitert. Auch an internen Querelen. Aber Wikileaks ist mehr als eine Plattform, es war die Geburt des Leakens. Leaken – also Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, die ihr vorenthalten werden sollen – ist eine effektive Waffe gegen Machtmissbrauch. Eine mächtige Idee. So mächtig wie ein Gesetz, das Regeln setzt für das Zusammenleben von Menschen.
Zur Zeit unserer Politisierung nahmen die meisten das Internet noch gar nicht wahr oder nicht richtig ernst. Doch wir fühlten uns eingeengt und verspürten den Drang, die Kohlenstoffumgebung zu verändern. Eines Abends kam jade bei einem Gespräch mit anx ein Einfall:
»Ein Staat ist ja nichts als eine Idee, anx. Die Idee, dass eine definierte Menge Menschen auf einem definierten Landstrich definierte Dinge tut, um der Definition Staatsbürger zu entsprechen.«
»Vorausgesetzt, dass alle definierten Einheiten diese Idee anerkennen.«
»Eigentlich könnten wir einen virtuellen Staat ausrufen! Mit virtuellen Wahlen. Mit virtuellen, freiwilligen Staatsbürgern, die eine virtuelle Identität haben. Aber mit einer echten Heimat! Was ist Heimat in der digitalen Welt?«
anx ist in einem tranceähnlichen Zustand, außer »127.0.0.1.« sagt er nichts.
»Und 16 mbit/s. Mindestens. Die Geburt ist nicht länger ein Gefängnis, wenn man den Staat, in dem man leben will, nach den Werten und Zielen, die die eigene Haltung repräsentieren, wählen kann. Und unsere Ziele sind klar. Sie sind virtuell, sie sind utopisch.«
»Sie sind eine iTopie.«
anx hält inne. Für eine Sekunde scheint es, als stehe die Welt still. Die mühsam aufgebaute, in allen Details ausgefeilte Welt, in der sie aufgewachsen sind, steht infrage. Und dann morpht jedes Puzzlestück an seinen eigentlichen Platz. An den Platz, den es vorher nie als den richtigen für sich erachtet hätte. anx umarmt jade stürmisch, küsst ihr Gesicht überall, trifft nicht die eigentlichen Stellen, drückt sie an sich.
Ist die Idee nicht Quatsch? Im Kopf geht sie durch, was ihre Staatsrechtsprofessoren dazu sagen und wie sie sie belächeln werden. Dabei ist das Ganze durchaus plausibel. Es ist ja nicht so, dass ein virtueller Staat völlig abwegig wäre. Im Gegenteil, der Gedanke liegt un glaublich nah, er springt einen quasi an. jade windet sich aus anx’ Umarmung:
»Ein virtueller Staat braucht prinzipiell viel weniger als ein materieller. Es braucht einen Server, einen Zugang und es braucht Menschen. Es braucht Leben. Konzept. Definition.«
»Also brauchen wir erst mal eine Internetseite. Wie wär’s mit iTopy? Oder openstate? Ostate? Net? Org? Man muss sich einloggen können, diskutieren, Informationen aggregieren, austauschen, beraten, evaluieren. Eine Zeitung! Und wir müssen kooperieren. Wir machen riesige Konferenzen im Internet. Wir protestieren gegen RFID und Stasi 2.0; gegen den Innenminister und staatlichen Sicherheitsterror. Wir kämpfen. Wir leisten Widerstand. Wir sind das Volk.«
»Vielleicht sollten wir ein Manifest schreiben? Wir müssen ja vorbereitet sein, wenn sie uns dann vielleicht mal anerkennen!«
jade ist in diesem Moment so überzeugt wie selten. Also schreiben sie in einer Etherpadinstanz, die anx selbst programmiert hat. Vorsichtshalber. Er schreibt in Blau, sie in Rosa:
09.02.2006
An die Welt, das Universum, die Menschen und alle, die fähig sind, mit eben jenen in Kontakt zu treten.
Überzeugt davon, dass die Menschen nicht die einzigen empfindungsfähigen Lebewesen in den Weiten des Universums sind, widmen wir diese Worte allen, die fähig sind, es sich zu erschließen. Alle empfindungsfähigen Wesen sind gleichberechtigt und haben das Recht, Rechte zu haben. Rechte, die uns Menschen vor Willkür und Gewalt schützen sollen, sollen auch alle anderen empfindsamen Wesen im Universum schützen.
Wir stehen für universelles Recht. Lediglich
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