Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
Verteidigung gegen eine feindlich gestimmte und angreifende Lebensform darf als legitim bezeichnet werden. Das Einbeziehen einer alternativen Lebensform außerhalb der Erde sollte aber für niemanden als lächerlich gelten, da eine generelle Verneinung eben dieser von aufgesetzter Arroganz des humanen Individuums zeugt. Aber nur ohne sie ist eine echte, universale Demokratie möglich.
Die Forderung nach einer direktdemokratischen Umgebung ist eine logische Folge der Demokratie selbst. Einige Staaten auf diesem Planeten praktizieren sie bereits. Dennoch: Die unglaubliche Masse von Bürgern macht diesen Schritt in den meisten Staaten unmöglich. Die Freiheit befindet sich in einer Falle der Repräsentation, die direkten Einfluss der Menschen nicht mehr ermöglicht. Mit dem Internet wurde der Ruf nach direkter Demokratie wieder laut, ebenso der Ruf nach freien Wahlen über das Internet, nach einer neuen Weltordnung.
Der Cyberspace wurde vor zehn Jahren für unabhängig erklärt, obwohl er das immer gewesen ist und sein wird – wenn mensch weiß, wie er zu benutzen ist. Dieser virtuelle Staat wird eine Grundlage für eine Gemeinschaft aller Menschen, aller empfindsamen Wesen legen. Deswegen proklamieren wir heute hier oState.org – einen virtuellen Staat.
»Du weißt schon, dass das irgendwie Quatsch ist, oder?«
»Ja. Aber einen Versuch ist es wert.«
Knapp sechs Jahre später, im Frühjahr 2012, tippe ich oState.org in die Browserzeile. Es erscheint eine Seite, die mir elektronisches Büromaterial anbietet. Unser Staat ist weg, die Wolke hat diese frühe Version einer Liquid Democracy gnädig verschluckt. Beim Blick auf die dürftige Auswahl des neuen Onlineshops mit Dollarpreisen erinnere ich mich wehmütig an die Ernst haftigkeit, mit der wir versuchten, diesen Staat mit Leben zu füllen. Wir trafen uns in einer idyllischen Hütte im Schwarzwald, gaben tatsächlich eine Zeitung heraus, hinterfragten die internationale Politik und forderten ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie freien Zugang zu Wissen und Kultur, den Schutz der Privatsphäre und die Integrität des Netzes.
Einen aus der Zeit habe ich letztens bei den Piraten getroffen. Eine von ihnen kannte Junto. Und eine ist gestorben.
Sich am Weltgeschehen verschlucken
tl;dr: Das Internet bringt die ganze Welt in mein Wohnzimmer, Elend und Ungerechtigkeit inklusive. Bin ich dafür verantwortlich, wenn im Nahen Osten gemordet wird oder ob es in der äußersten Mongolei Demokratie gibt? Niemand kann überall gleichzeitig sein, und es ist in Ordnung, mit der politischen Arbeit im eigenen Land zu beginnen. Aber ich kann zumindest für die Freiheit und Anonymität des Netzes eintreten. Für alle, überall.
Revolution. Es ist so weit. Die News- Ticker flippen aus. Revolution im Nahen Osten. Erst Tunesien, dann Ägypten, jetzt Juntos Heimat. Mortensen ist seit Stunden damit beschäftigt, die Internetversorgung für die Demokratisierungsbewegung sicherzustellen, denn Juntos Regierung sabotiert das Netz.
Der Bildschirmrand flackert, das Autorisierungsfeld öffnet sich. Ach, SPAM , denke ich und klicke aus Langeweile auf das Profil. Normalerweise steht da et was in kyrillischen Buchstaben, oftmals in Kombi nation mit lateinischen Buchstabenfolgen wie sexyGirl1993 . Diesmal nicht. Diesmal ist es Junto. Mein Atem stockt. Er hat seinen Rechner und alle Accounts neu aufgesetzt. Mortensens Plan ist also aufgegangen. Ich hatte seit dem letzten Chat nichts mehr gehört, nur Mortensen hatte berichtet, dass es Junto gut gehe. Soweit das überhaupt möglich ist. Denn das Internet spricht anderes, von Mord und Folter, von Gewalt und Verhaftungen.
Junto schreibt: In diesen Zeiten sind wir alle Familie. Menschen. Vergesst das nicht. Das Blut unschuldiger Menschen. Unser Blut. Die Tränen der Eltern, der Freunde und Liebsten. Vergesst das nicht. Vergesst unsere Geschichten nicht. Bitte.
Erstarrt blicke ich auf die Zeilen. Was kann ich tun? Kann ich etwas tun? Während mir Tränen die Wangen herunterlaufen, weiß ich nicht, wie ich reagieren soll. Was soll ich ihm sagen? Wie kann ich ihm Mut machen? Ich sitze Tausende Kilometer entfernt, habe keinen Einfluss auf die politischen oder gar militärischen Entscheidungen des Westens. Soll der Westen überhaupt eingreifen? Was in Juntos Heimat passiert, grenzt an staatlichen Massenmord. Oder ist einer. Ich weiß es nicht. Ich spüre, dass mich das etwas angeht, und habe Angst um Junto – und doch stehe ich in seltsamer Distanz
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