Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
zu dem, was er schreibt. Einerseits bin ich froh, von ihm zu hören, andererseits fühle ich mich so schlecht und hilflos, dass ich einen Moment lang wütend auf ihn werde. Wieso setzt er mich dem aus? Oder vielmehr das Internet. Ich sitze ohnmächtig vor dem Bildschirm, bin mitten im Geschehen, ohne etwas tun zu können.
Junto schreibt weiter über seine Hoffnung und den Willen, für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Er glaubt daran, dass wir eine gerechte und freie Welt schaffen können. Er spricht davon, dass er den Sieg für die gute Sache vielleicht nicht mehr er leben wird. Ich beginne zu schluchzen. Zum Glück sieht mich Junto so nicht. Er würde versuchen, mich zu trösten. Das wäre mir peinlich. So kann ich ihm sagen, dass er für das Richtige kämpft. Und dass ich ihn bewundere. Von meinem Schreibtisch aus kann ich ihn in seinem Mut bestärken, den ich selbst kaum hätte.
Traurig und aggressiv klappe ich den Rechner zu. Vor meinem geistigen Auge erscheinen Fernsehbilder von verhungernden Kindern, die mit großen Augen und aufgeblähten Bäuchen in die Kamera blicken. Die Bilder aus den KZ s mit den ausgemergelten Leichen. Ich denke an das Essen, das wir täglich wegwerfen, die Stunden, die ich vor Monitoren verbringe, die kleinen Probleme und Streitigkeiten über hellblauen Lidschatten und Altersbeschränkung bei Bobbycars. An die Menschen, die auf dieser Welt schuften, damit ich für 39,90 eine Digitalkamera erwerben kann.
Ein Rat versammelt sich in meinem Kopf, besetzt mit Karl Marx, Ulrike Meinhof, Theodor Adorno, Marie Antoinette, Ralf Dahrendorf, Hannah Arendt, Max Weber, meinen Eltern (wobei Vater von der Unmöglichkeit des Kommunismus spricht und Mutter von der Devise, jeder Mensch sei so, wie er ist, in Ord nung). Friedrich Nietzsche, Kurt Schumacher und Konrad Adenauer sind auch dabei, und sie streiten. Über Sinn und Unsinn der Marktwirtschaft, über die menschliche Natur und die Durchsetzbarkeit von Idealen, über Moral und das gute Leben. Einige schreien, andere weisen darauf hin, dass wütende Menschen nicht denken, was Marie Antoinette mit einem süffisanten »Ist doch egal!« beantwortet. Hitler und Stalin habe ich heute mal ausgeladen. Ebenso Hegel. Mich überkommt ein bebendes Bedürfnis, diese Welt zu verändern, radikal, jetzt. Ich klappe den Rechner wieder auf.
Junto ist weg. Ich habe mich nicht von ihm verabschiedet.
Stattdessen huschen am linken Bildschirmrand die Nachrichten des Tages vorbei. Irgendein Popstar ist gestorben. Und es gab eine Flutkatastrophe mit ein paar hundert Toten in Afrika. Ein Maßnahmenplan gegen den Klimawandel ist geplatzt. Ich kann der Bombardierung einer Stadt in Libyen per Stream zuschauen. Im Zoo von Pjöngjang ist ein Kamel gestorben, ein Panther hat es gefressen. Das YouTube -Video wird wieder und wieder im Fernsehen gezeigt.
Das digitale Zeitalter vernetzt uns mit dem Rest der Welt. Elend und Not sind noch viel mehr Teil von mir, als sie es im Zeitalter des Fernsehens waren. Jeden Tag prasselt der wahre Zustand dieser Welt auf mich ein, erdrückt mich mit der Forderung nach Verantwortung, danach, mein Leben anders zu gestalten, alle Leben anders zu gestalten. Jeden Tag lese ich von Ausbeutung und Machtmissbrauch irgendwo auf der Welt, von Menschen, die leiden, von korrupten Regierungen, Kriegstreibern, Waffenhändlern, gierigen Konzernen und Superreichen. Ich lese über irrelevante Promis und Abnehmtipps, über Geldvernichtung und andere absurde Auswüchse menschlicher Kultur, und ich fühle mich schäbig. Jeden Tag versuche ich zu handeln. Jeden Tag scheitere ich. Mein Leben ist durchzogen von Inkonsequenz, dauernd lebe ich im Widerspruch dazu, dass ich es besser weiß oder wissen müsste, als ich tatsächlich handle. Es gibt kein konsequentes Leben im falschen.
Das Internet transportiert die ganze Spannweite menschlichen Seins und der Antworten auf dieses Elend – und trotzdem wird mir ständig bewusst, dass wir nichts gegen die Missstände tun können. Es gäbe so vieles besser zu machen. Aber wo anfangen? Bei uns, die wir selbst genug damit zu tun haben, das Leben zu meistern? Überfordert von eigenen Problemen, werden wir von den Problemen der anderen weiter in den moralischen Abgrund gezogen. Und doch: Kann man jemandem vorwerfen, kein Elend erlebt zu haben? Leid nur aus der Betrachtung zu kennen?
Wieder eine Petition. Seit es die Petition gegen Netzsperren geschafft hat, viele Unterschriften zu sammeln, trudeln jede
Weitere Kostenlose Bücher