Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
in der französischen Nationalversammlung war Humor anfangs verboten. Mit der Demokratisierung von Kunst und Schrift explodierten dann die Karikaturen und die Satire. Humor ist somit auch ein Mittel des Aufstands gegen die Herrschenden. Und dennoch: Das Netz ist eine wahre Herrenwitzsammelmaschine und an manchen Tagen fragt man sich, ob man noch irgendetwas ernst nehmen kann oder ob alles ein Witz ist. Schließlich hat der Mensch so etwas wie einen angeborenen Wunsch nach Sinnstiftung. Wir suchen nach einem Sinn, dem Zweck unseres Daseins. Und das Internet ist da wenig hilfreich: Für jede Position findest du im Netz sowohl Bestätigung als auch Widerlegung, vieles ist gefälscht oder falsch oder verzerrt. Die Moderne hat den Sinn zerstört, die Postmoderne hat die Zerstörung betrachtet und in der Post-Postmoderne betrachten wir nun die Betrachtung der Zerstörung. Das Netz als ewiger Regress …
Doch warum klammern wir uns dermaßen an die Vorstellung, dass es eine Wahrheit geben muss? Ist das nicht wie Gott, der Allwissende, den wir längst für tot erklärt haben?
Wir glauben, dass wir alles wissen können, alles systematisieren können. Wieso ist es so schwer zu akzeptieren, dass es nichts gibt? Also alles und nichts. Un sere Wissenschaften haben sich der Wahrheitssuche verpflichtet, aber sind sie nicht genauso trivial wie die Priester und Scharlatane der Vergangenheit, wenn sie so tun, als würden sie die Wahrheit kennen? Den Wunsch nach Wahrheit, nach Klarheit und Orientierung, tragen wir alle in uns. Deshalb erklären wir die einen zu Tätern und die anderen zu Opfern, schreiben Geschichte, ohne die Wahrheit zu kennen. Deshalb glauben wir an Schuld. Deshalb meinen wir zu wissen, wie andere Menschen sind oder denken.
Wieso müssen wir uns alles erklären, wieso brauchen wir Sinn? Genügt es nicht, wenn wir uns lustig nihilistisch im Kreis drehen? Das Internet ist Abstrak tion. Und wie ein riesiger Vorschlaghammer glätten seine Abstraktionen hypermodern die Unebenheiten der Realität. Übrig bleibt nichts. Außer der Angst vor dem Nichts und vor der Bedeutungslosigkeit.
Aufklärung 2.0
tl;dr: Das Internet ist keine Verdummungs maschine, im Gegenteil. Es ermöglicht, das Projekt Aufklärung weiter voranzubringen. Dazu braucht man die Freiheit des Wortes, die derzeit aber eher im Ermessen privatwirtschaftlicher Konzerne liegt denn in öffentlicher Hand.
Ich sitze im Café einer amerikanischen Kette, die am Tresen fair gehandelten Kaffee verkauft und das Gefühl, die Welt ein bisschen besser zu machen. Das WLAN ist kostenlos und im Hintergrund läuft eingängiger Jazz. Retro und hip soll es sein. Ein paar Palmen stehen in Bastkörben auf dem Zebrateppich. Es riecht nach frisch gemahlenem Kaffee, wobei vermutlich mit künstlicher Beduftung nachgeholfen wird. Auf den Tischen stehen Plastikbecher, die man kaum halten kann, die aber auf dem metamodernen Boulevard unglaublich kleidsam sind. Ich mag diese Atmosphäre, sie befriedigt meine Grundbedürfnisse. Ganz so, wie es in der Marketingabteilung konzipiert worden ist. Übermüdet tippe ich zum wiederholten Mal die Nummer in das Tastaturfeld meines mobilen Endgeräts: 23542.
Keine Reaktion.
Meine Augen beginnen zu tränen, ich starre weiter auf den flackernden Bildschirm. Was tue ich hier eigentlich? Von oben betrachtet bin ich lediglich eine Amöbe, die sich der Illusion hingibt, die Welt in ihrem Nihilismus brauche sie. Eine Figur bin ich, die sich ihrer Rolle nicht bewusst wird oder werden kann, die ihre gesellschaftliche Funktion sucht. Ich denke an die Zeit, in der die Rolle in der Welt klar und vererbbar war, in der es gar keine Wahlmöglichkeiten gab, nur Pflichten. Selbst ernannte Konservative und Nippesverkäufer verklären das gerne. Ich seufze so laut, dass mein Tischnachbar mich irritiert beäugt. Schau weg!
Mit der Renaissance hat es begonnen. Der Aufstieg des Menschen. Des Mannes. Der sukzessive Bedeutungsverlust Gottes hat die alte Ordnung zerstört. Plötzlich schien alles möglich, und die Menschen entwickelten die verschiedensten Alternativen und Utopien, um das gute Leben zu erlangen. Hier, jetzt, sofort. Das metaphysische Vakuum musste gefüllt, die Schmerzen der transzendentalen Obdachlosigkeit verdrängt werden. Denn Nihilismus tut weh.
Das 19. Jahrhundert! Ich schwelge in Nostalgie und in Abscheu. Ich denke an Jugendstil, an Hegel und Tolstoi. An russische Zigaretten. Die Moderne, die ses Monster, das dazu gedacht war, die Welt zu
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