Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
retten. So wie das Internet! Das Internet? Stehen wir an der Schwelle zu einer neuen totalen Diktatur? Skynet ? Ich muss lachen. Wird aus der Idee, die Digitalität in den Mittelpunkt des Daseins und Denkens zu stellen, die furchtbare Inkarnation eines Gottes ohne Gnade, ohne Barmherzigkeit und ohne Wahrhaftigkeit? Ach, es ist so viel einfacher, sich einer Sache zu unterwerfen, als sich einem differenzierten Weltbild voller Widersprüche zu verpflichten.
Worum ging es gleich noch mal in der Aufklärung? Aufklärung steht für einen Emanzipationsprozess, der den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien kann, rezitiere ich Kant in meinem ange strengten Kopf . Einerseits betrifft die Aufklärung ganze Gesellschaften, die Steine der Bastille brachten auf den Pariser Märkten einen phantastischen Umsatz. Andererseits richtet sie sich an jeden Einzelnen mit der Forderung, sich von biologischen und sozialen Bürden zu emanzipieren. Erst wenn ich frei von dem bin, was mich zu dem gemacht hat, was ich bin, bin ich frei!
Da kommt Sesemi zur Tür herein. Sie hat mir gerade noch gefehlt. Ihre Augen funkeln.
»Na?!«, begrüßt sie mich neckisch. Ihr Blick wandert auf meinen Laptop. »Solange du diesen proprietären Apfelscheiß benutzt, bist du unfrei, das weißt du, oder?«
Was soll man dazu sagen? Ja, aber es ist so unfass bar einfach zu bedienen? Ja, aber ich bin zu unge schickt für das Konfigurieren freier Betriebssysteme ?
»Dass du dich hier mit diesem Gerät zeigst, ist total daneben! Du machst dich zum Sklaven dieser Firma, die mehr Religion ist als Konzern. Verdammt noch mal!«
Sesemi wirft sich mit Verve in die Tiefe des würfelförmigen Sessels. Ich bemühe mich, das Gespräch auf etwas Unverfängliches zu lenken.
»Wo kommst du denn her?«
»Aus Brüssel. Die haben sie nicht mehr alle. Musste mich sogar in ein Kostüm werfen, für meinen Auftritt. Die Contentmafia kriegt sich nicht mehr ein und versucht jetzt alles, um den Zugang zum Internet zu beschränken. Und sie hat brave Verbündete in den Reihen der Politiker. Als ich gesehen habe, dass du hier bist, dachte ich mir am Flughafen, ich komme vorbei.«
Ich frage mich, ob ich bereuen soll, getwittert zu haben, wo ich bin. Meine Gedanken sind bei der Telefonverbindung, die einfach nicht zustande kommt, während Sesemi mich weiter ihrer politischen Mission aussetzt:
»Bitte, steig endlich auf Linux um, es ist ein Verbrechen, wenn du so weitermachst und dich freiwillig diesen Monsterkonzernen unterwirfst! Du kannst die moralische Frage dabei doch nicht einfach ausblenden, oder? Es geht hier um die Selbstbestimmung der Menschen. Du trägst zur freiwilligen Versklavung bei!«
Sie guckt mich fordernd an, und ich bin einen Moment gewillt, meinen Laptop in den Müll zu werfen und mein Leben dem Erlernen von Linux zu widmen.
»Aber du kannst doch nicht von jedem verlangen, dass er Informatik studiert. Ich meine, es gibt Menschen, die können nicht mal lesen oder schreiben …«
Die moralische Aufladung von Themen macht mich nervös, es fühlt sich an, als würde man durch seine bloße Existenz die Welt zugrunde richten.
»Tja, Programmieren ist halt das neue Latein.«
»Ist das nicht elitär und etwas abgehoben? Das geht doch an der Lebenswirklichkeit der Leute vollkommen vorbei, wenn sie an Kabeln schnüffeln müs sen, um soziale Netzwerke benutzen zu können. Sie mögen diese Form der Kommunikation, sie wollen sich da aufhalten. Die Maßstäbe, die du anlegst, das ist doch grotesk! Am besten koppeln wir das Wahlrecht an das Wissen über Algorithmen!«
Sesemi ist nun in ihrem Element.
»Oh, das fände ich gar nicht schlecht. Dann würden weniger dumme Entscheidungen getroffen! Und: Von mir findest du nichts im Netz. Nichts, was ich nicht will. Und ja, es ist ein Problem, dass keiner von euch Web-2.0-Opfern weiß, wie das Netz eigentlich aufgebaut ist. Wir haben jetzt eine ganze Menge Leute, die das Netz nur noch benutzen, ohne zu verstehen, was das Netz überhaupt ist! Was weißt du denn über die technische Infrastruktur?«
Ich reagiere nicht.
»Nichts, genau. Und das ist fatal. Wir liefern uns aus! Ein Klick entfernt von der Selbstbestimmung, glaubt man. Und dann ist man Knecht eines Konzerns, der die eigenen Daten verkauft. Und alles nur, weil man sich einer Illusion hingeben wollte.«
Die rechte Hand, mit deren Zeigefinger sie wild gestikulierte, sinkt langsam ab.
»Die Maschinen beherrschen dich«, ihr Ton spiegelt ihre
Weitere Kostenlose Bücher