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Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)

Titel: Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Schramm
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Und will ich auch nicht. Selbstverständlich ist es paradox, dass viele sich trotz Kontrollverlust so fühlen, als hätten sie maximale Kontrolle. Eine Kontrolle, die sie sonst im Leben niemals erreichen können. Auch darfst du natürlich nicht vergessen, dass man in den sozialen Netzwerken sehr schnell viel Rückmeldung und Anerkennung kriegen kann. Anerkennung, die die meisten Menschen nicht bekommen in ihrem Leben. Das ist Fluch und Segen zugleich. Das sind aber Probleme des kapitalistischen Systems. Deswegen glaube ich, dass die ganze Debatte um Privatsphäre im Internet der Mühe nicht lohnt …«
    »Das ist eine so unglaublich dämliche Provokation und ein Schlag ins Gesicht aller, die sich bisher den Zensoren dieser Welt in den Weg gestellt haben. Ich frage mich manchmal echt, welche Drogen du nimmst, um so was von dir geben zu können! Viel leicht ist es einfach eine zeitgemäße Form des Stockholm-Syndroms, die du da zeigst. Unbegreiflich. Was du über dich preisgibst, ist uninteressant! Wozu? Die Millionen User sind nichts als ein Haufen Sheeple , die sich selbst entblößen und den Konzernen zu Füßen werfen!«
    »Internet ist öffentlich und global, man sollte dem keine unnötigen Ketten anlegen. Das Internet ist viel zu frei für die Idee privater Vorhänge. Wieso verschweigen wir so viel? Es ist doch bizarr, dass wir Menschen zwingen, ihr Innerstes zu verstecken, weil wir damit nicht umzugehen wissen! Jeder muss sich öffnen können, wenn er das möchte!«
    »Sag das doch mal den chinesischen Dissidenten! Deine naive Geschichtsvergessenheit kotzt mich an. Außerdem wäre das der von Selbstentwürfen regulierte Mensch. Was du hier skizzierst, ist eine neue Form des Beichtens, nur ohne Gott, eine Schuld, die mit der Aufklärung abgelegt werden sollte. Das ist zutiefst revisionistisch! Und das werde ich nicht befürworten.«
    »Es geht mir doch nicht um die sozialen Netzwerke als Beichtstühle. Dafür müsste ich eine gewisse Form von Moral vorsehen, eine Norm, von der ab zuweichen deine Beichterei erfordern würde. Und du weißt, dass ich Moral für einen seltsamen Fetisch halte, den wir seit dem 19. Jahrhundert zu wenig aggressiv bekämpfen …«
    »Jaja, ich weiß, selbst Nietzsche war nicht so konsequent wie du!«
    Sesemi imitiert ein Gähnen.
    »Anyway…«, setze ich wieder an.
    »Himmel, und was ändert das daran, dass der KGB die Profile auf Facebook abgreift? Na?!«
    »Manchmal klingst du, als gäbe es einen Weltbeherrschungsrat, der das alles plant und uns zu Marionet ten macht. Du und deine Verschwörungsscheiße.«
    »Was wir brauchen, ist einfach eine aufgeklärte Gesellschaft, in der jeder rational agiert. Punkt. Das kann doch nicht so schwer sein! Jeder, der einmal die Unmündigkeit abgeworfen hat, wird andere auch überzeugen können und dann benutzen wir alle dezentrale Systeme, freie Software und bekommen die freie Menschheit, die wir uns erhoffen!«
    »Das ist doch komplett utopisch! Menschen glücklich machen zu wollen ist der erste Schritt in die Hölle, denn dann zwingst du ihnen in letzter Konsequenz einen Lebensstil auf. Und was passiert, wenn sie den nicht annehmen wollen?«
    Stille. –
    »Siehst du.«
    Sesemi ist gelangweilt: »Ich muss jetzt los, Welt retten, wisse schon!«
    »Äh, ja. War nett. Bis bald, oder?«
    »Kleiner drei, meine Liebe.«
    Ich sehe ihr noch einen kurzen Moment hinterher, ihre ebenholzfarbenen Locken wippen, als sie über die Straße geht. Diese Frau ist eine Wucht, denke ich und grüble über das Gespräch nach. Sesemi und ich sitzen wohl beide einer Utopie beziehungsweise Dystopie auf, die wir nicht erleben werden. Sie glaubt daran, dass es Vernunft gibt und Aufklärung dazu führen wird, dass Menschen rationale Entscheidungen treffen können und werden. Ich wiederum glaube, dass Menschen ein Recht auf Fehler haben, niemals alle Menschen auf geklärt sein und schon gar nicht rational handeln werden. Dass die Geheimdienste und Staaten, ebenso die großen Konzerne das Netz zu ihrem Vorteil zu nutzen versuchen – geschenkt. Das ist kapitalistische Logik, damit leben wir. Ich öffne mein Schreibprogramm und beginne zu tippen. Ich werde wohl darüber bloggen. Und den Text Sesemi widmen.
    Schafft das Netz eine demokratischere und freiheitlichere Gesellschaft, an der mehr Menschen partizipieren können? Dass die Menschen nach Sinn suchen, ändert sich erst mal nicht. Und dass sie lieber Pornographie anklicken, als sich mit Fragen der Demokratie zu

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