Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
beschäftigen, wohl auch nicht so schnell. Was tun? Kann man mit dem Netz eine neue Aufklärung in Gang setzen?
Einerseits bedeutet das Internet eine Dezentralisierung und somit eine stärkere Pluralisierung von Ideen: digitale Aufklärung erscheint am Horizont. Andererseits kann jeder eigene Ideologeme erstellen. Es besteht die Möglichkeit einer radikalen Individualisierung, im Extremen Vereinsamung, in einem bisher nie gekannten Ausmaß. Das Internet als globales Vernetzungsmedium erhöht sowohl die Möglichkeit als auch Flüchtigkeit der eigenen Identitätsbildung. Gleichzeitig ergibt sich die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden, mit denen sich wiederum die eigenen Ideen verknüpfen lassen – Grundlage für neue, globale Ideologeme. So gesehen kann auch das Internet als solches selbst zu einer Ideologie werden. Als solche wird es auch bereits verteufelt!
I st es nicht perfide? Ich tippe Adorno in meine Suchleiste. Ah, da ist das Zitat, das ich gerade erst vollständig begreife: » Das Bestehende zwingt die Menschen nicht bloß durch physische Gewalt und materielle Interessen, sondern durch übermächtige Suggestion. Philosophie ist nicht Synthese, Grundwissenschaft oder Dachwissenschaft, sondern die Anstrengung, der Suggestion zu widerstehen, die Entschlossenheit zur intellektuellen und wirklichen Freiheit.«
Freiheit des Individuums – das Internet ermöglicht sie. Einerseits. Ich tippe weiter:
Das Internet bietet durch seinen dokumentarischen Charakter zum einen die Möglichkeit einer umfassenden Aufklärung. Es funktioniert als Gedächtnis und liefert allgemein zugängliche Informationen. Andererseits ist die Gefahr globaler, antiaufklärerischer Denkhaltungen nicht gebannt, ggf. sind sie durch die Verbreitungsmöglichkeit des Netzes sogar wirkungsmächtiger. Eine inhaltliche Abkopplung von der realen Welt im Internet ist ungleich einfacher, als einer inhaltlichen Diskussion in der realen Welt aus dem Weg zu gehen. Das Internet schafft die Möglichkeit einer Parallelwelt, die in sich geschlossen ist. Es ist paradox. Es ist das Medium der Aufklärung und potenziell das Medium der totalen Ideologisierung. Menschenwerk eben.
Ich freue mich über meine Gedanken. Die werde ich noch einbauen können in einen Text. Ich schließe das Programm, speichere die Datei unter »Ideologie2.0 .txt « und tippe abermals die Zahlen in das Tastaturfeld meines mobilen Endgeräts. Ah! Am anderen Ende der Leitung meldet sich jemand.
»Wie geht es Junto?«
»Ich weiß es nicht. Er reagiert nicht.«
Das Netz gehört allen
tl;dr.: Das Internet, der Raum der unendlichen Möglichkeiten, der radikalen Gegenöffentlichkeit bedarf der mutigen Nutzung. In zu vielen Teilen der Welt ist das mit einem Risiko für Leib und Leben verbunden. Hinter den Daten stecken wir. Und nur wir.
Wir haben uns auf einer Party in einem besetzten Haus verabredet, ich sitze auf einem halb verschimmelten Sofa zwischen Graffiti und Punkmusik, nippe an ei nem Oettinger und twittere. Da kommt Mortensen. Seine Augen haben tiefe Ringe und sind angeschwollen, seine Pupillen zittern, als er mir mit bestimmter Stimme sagt, was passiert ist. Dass seine Bemühungen umsonst waren, dass Junto wohl tot ist.
Mein Mund öffnet sich, will widersprechen, Trost spenden, stattdessen laufen Tränen meine Wangen he runter. Ich will Mortensen umarmen, möchte das Geschehene rückgängig machen, die Nachricht verschwinden lassen. Was ist überhaupt passiert? Mortensen schluchzt, er gibt sich die Schuld, er stammelt etwas von einem Bild, das Junto ihm schicken wollte, das die Polizeigewalt gegen die Rebellen zeigt und den hiesigen Medien zugespielt werden sollte.
»Junto hätte mir das Foto nicht schicken dürfen«, sagt Mortensen. »Ich hätte es ihm verbieten müssen. Ich habe ihm einen falschen Eindruck von Sicherheit vermittelt. Ich war nachlässig. Es ist meine Schuld.« Er verstummt.
Ich wusste, dass es Komplikationen gegeben hatte – nicht zuletzt hatten die Abendnachrichtenüber eine erneute Verhaftungswelle in Juntos Heimat berichtet.
»Es sind doch nur Daten«, wiederholt Mortensen immer und immer wieder. »Es sind doch nur Daten.«
Wir sitzen schweigend nebeneinander, halten uns die Hände und trinken Bier.
Der Tod, das ist etwas für alte Menschen, nicht für uns, denke ich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, alt zu sein und sterblich. Wie auch? Wir haben doch noch so viel Zeit. Jeder sieht in uns, in meiner Generation die Zukunft, das Neue,
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