Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
die Hoffnung. Jeder will aus genau jenem Grund jung sein, die Jugend für sich gewinnen. Es ist der Aggregatszustand des Menschen, der dem Tod am entferntesten, der Zukunft am nächsten ist. Manchmal klicke ich die übrig gebliebenen Profile Verstorbener und merke, dass der Tod in der digitalen Welt etwas sehr Fernes und Abstraktes ist. Nicht zuletzt, weil Daten irgendwie unsterblich sind. Trotzdem stehen hinter Daten, diesen elektrischen Impulsen, ganze Identitäten und Existenzen. Hinter den vielen Pixeln verstecken sich Menschenleben, echte Subjekte, mit Angst und voll Liebe, der Missgunst erliegend, ihre Liebsten betrügend. Und auch wenn wir um die Tücken des elektrischen Golems wissen, vergessen wir die Vorsicht nur allzu schnell, im Eifer wie in der Bequemlichkeit. Wir verschicken unsere Daten, machen uns klickbar, zu Objekten, fordern die Menschen auf, uns anzuklicken, uns zu sortieren, einzuordnen. Wir verpixeln Leben. Und manchmal setzen wir es so aufs Spiel.
»Was ist denn hier los?« Eine vertraute Stimme. Leonard kommt näher. Überschwänglich falle ich ihm um den Hals. Während er mich drückt und mir beruhigende Floskeln ins Ohr spricht, schluchze ich auf seiner Schulter. Wir setzen uns. Er reicht mir eine Zigarette und ein neues Bier.
»Diese Welt ist ekelhaft. Einfach nur ekelhaft.« Etwas apathisch wippe ich vor und zurück, die Worte rhythmisch wiederholend. »Was bringt uns die Vorstellung von Datalove , wenn sie Menschenleben kostet? Was hatte Junto davon, dass er Internet hatte? Nichts! Einfach nichts … wir sitzen hier und machen uns Gedanken über Rechnerwolken und Informationstechnologie, während es für Menschen wie Junto um ganz grundlegende Freiheiten und Menschenrechte geht … ging …« Ich beginne wieder zu schluchzen.
Leonard schweigt und legt den Arm um mich. Er redet auf mich ein, aber ich höre ihm nicht mehr zu. Es war nur ein Bild, auf einem Monitor.
Monitore konditionieren unser Unterbewusstsein auf zwei Formen der Realität. Die eine besteht aus Club Mate und Pizza und dem Lärm der Straßenbahn, quietschenden Bürostühlen und mit Postern vollgehängten Wänden, die andere aus den Bildern, die mein Monitor in diese erste Realität hineinträgt. Es liegt an mir, welche dieser Realitäten ich in meinem Innersten annehme.
Was würde die Kommunistin chloe.f.f.w heute dazu sagen? Bestimmt, dass die Technik als Mittel der Demokratisierung und Aufhebung von Herrschaftsstrukturen einst genutzt werden sollte. Und dass wir einsehen müssen, dass die Technik in der kapitalistischen Logik gefangen ist und dass sich die Herrschaftsstrukturen in der Technik abbilden und reproduziert werden. Dass wir gerade beobachten dürfen, wie sich Herrschaftsverhältnisse mit Hilfe der Technik manifestieren. Dass die Märkte sich vor den Menschen vernetzt und es geschafft haben, eine Umverteilung nach oben zu erzeugen. Dass wir nun den Willen zur Vernetzung, zum Kampf gegen eine internationale Wirtschaftselite brauchen. Dass es im Wesentlichen um das Entwerfen einer Gesellschaft geht, in der jeder Mensch Teilhabe zugesprochen bekommt. Und dass es sich dafür zu kämpfen lohnt. Sie würde immer noch das kleine, kalte Stück Schnitzel essen.
Was bleibt?, scheppert es in meinem Kopf. Was bleibt?
Ob Junto in seinen letzten Momenten daran dachte, dass er für die Sache der Freiheit gestorben ist? Oder will ich ihn von meiner kuscheligen Dachgeschosswohnung aus nur als »edlen Wilden« begreifen? Ha ben wir überhaupt dasselbe gemeint, wenn wir je weils von Freiheit sprachen? Von was muss ich denn noch befreit werden, und gegen welche Gewalt musste Junto tagtäglich ankämpfen, um sich auch die kleinsten individuellen Freiräume zu erstreiten? Ich bereue, dass ich ihn so wenig gefragt habe.
Ich glaube, in einem Punkt meinten Junto und ich dasselbe, wenn wir von Freiheit sprachen. Es ging uns um Offenheit, um Schrankenlosigkeit. Man kann einer sich stetig wandelnden Welt nicht mit geschlossenem Denken beikommen. Ein offenes Ohr, ein offenes Herz und ein offenes Denken erfordert die Überwindung der eigenen Ängste und Vorurteile. Das ist für mich die eigentliche Bedeutung von Transparenz. Es geht hier um viel mehr als um Vergabeverfahren für Müllver brennungsanlagen. Es geht um transparentes Denken, transparente Gesellschaften, transparente Kulturen. Transparenz bedeutet nicht weniger als die Verdrängung des Subjektiven als absoluten Maßstab des Seins, indem man es sich und anderen bewusst
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