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Klippen

Klippen

Titel: Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Adam
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ohne erkennbare Schmerzen und ganz ruhig, als wäre der Vorfall nicht weiter von Bedeutung. Wir gingen zu ihm, und er war noch stiller als sonst. Noch stiller und unergründlicher. Antoine warf ihm besorgte Blicke zu. Wir spielten eine Partie Kicker, und ich erinnere mich noch an den Geruch nach Zement und Kork, der dort unten herrschte, an die Mausefallen in den vier Ecken des Raums, an den gestampften Boden und das rechteckige Fenster, das auf Rasenhöhe zum Garten ging, an die Stapel alter Zeitungen, die zerbrochenen Stühle, die abgestellten Tische, die sandgefüllten Leinensäcke an den Haken, die brüchigen Handschuhe im Staub. Wir spielten halbherzig und mit einem Kloß im Hals. Nicolas verschwand zwischendurch kurz. Ich dachte, er wollte Flaschen oder seinen Kassettenrekorder holen. Er kam mit dem Karabiner zurück In Antoines Augen trat ein Leuchten. Nicolas forderte uns mit einem Wink auf, ihm zu folgen. Aus seinem Gesicht wurden wir nicht schlau. Wir trotteten hinter ihm her, ich zitterte vor Angst, und draußen blendete mich das helle Licht. Wir gingen in den hinteren Teil des Gartens. Die Mauern waren mit Stacheldraht bewehrt. In einem der Fässer trieb dicht unter der Oberfläche des ekelerregenden Wassers auf der Seite liegend ein toter Wels. Nicolas drehte sich mit einem merkwürdigen Lächeln auf den Lippen zu uns um. Mit dem Kinn zeigte er zu den Kaninchen. »Na, wie wär’s?« Antoine antwortete nicht, ich verschanzte mich hinter ihm. Nicolas lud das Gewehr durch, entsicherte es und schoss. Nach drei Anläufen war das erste Kaninchen tot. Was danach kam, war das reinste Massaker. Die Biester explodierten ohne einen Mucks, die Käfige waren schon bald mit Blut besudelt. Ich kotzte in die Rosensträucher. Antoine nahm den Karabiner und knallte ebenfalls zwei ab. Nicolas brachte die Sache zu Ende, und wir gingen zurück in den Keller. Um uns wieder zu fangen, tranken wir Whisky aus der Flasche. Nicolas grölte aus vollem Hals, ich fragte ihn immer wieder, was sein Vater dazu sagen würde. Er zeigte auf das Gewehr. »Er wird das Maul schon nicht aufreißen, wenn er nicht so enden will wie seine Kaninchen.«
    Als wir das Haus verließen, saß Nicolas zusammengesunken in dem durchgesessenen großen Sessel, das Gewehr auf den Knien. Im Hinausgehen sagte Antoine noch zu ihm: »Mach keinen Quatsch, ja?«, und Nicolas erwiderte: »Keine Sorge.« Am nächsten Tag war er nicht in der Schule. Am übernächsten auch nicht. Er kam überhaupt nicht mehr. Ich hatte immer gedacht, dass er seinen Alten eines Tages umlegen würde. Das hatte er selbst gesagt. Aber in Wirklichkeit hatte er ihn, über dem Kopf die von der Decke baumelnde nackte Glühbirne, in dem großen Sessel erwartet, er hatte ihm geradewegs in die Augen gesehen, das Gewehr umgedreht, in den Mund gesteckt und sich das Gehirn rausgeblasen.
     
     
     
     
     
     
    Antoine wollte nicht, dass wir zur Beerdigung gingen, er wollte Nicolas’ Vater nicht begegnen, wollte nicht den Schwachsinn hören, den man über Nicolas erzählen würde. Danach löste sich die Bande auf, vorbei waren die Lagerfeuer im Wald, die improvisierten Partys am Seineufer, die Vögelei mit wechselnder Konstellation im Gestrüpp. Alle blieben zu Hause, ernüchtert, belämmert, verstört. Nicolas war tot, und Antoine sagte immer wieder, eigentlich sei er der Einzige von uns allen mit ein bisschen Mumm und Durchblick gewesen. Dieses Jahr war das traurigste, schwärzeste von allen Jahren, die ich mit meinem Bruder verbracht habe. Es war auch das letzte. Mein Vater brüllte uns wegen jeder Nichtigkeit an. Maman spukte pausenlos in unseren Köpfen herum, sie erschien uns immer häufiger, und wir versanken rettungslos in der Vergangenheit. Antoine wurde stiller und stiller, und das machte mir Angst. Er wurde Nicolas immer ähnlicher, ich las auf seinem Gesicht die gleiche kalte Entschlossenheit, die gleiche Verzweiflung, die gleiche Zerfahrenheit. Auch Laetitia war beunruhigt. Sie sah ihn bekümmert an und sagte zu ihm, er trinke zu viel, verbringe zu viel Zeit mit dem Versuch, sich selbst zu zerfleischen, sie täten nichts anderes mehr als vögeln und rauchen, und das habe allmählich etwas Bedrückendes, Trauriges, Krankes. Mein Bruder erwiderte nichts, er zündete sich eine Zigarette an und starrte in ihrer Wohnung an die Decke.
     
    Das war auch die Zeit, als Lorette aufhörte zu essen. Keiner außer mir machte sich Sorgen, als sie immer mehr abmagerte, ihre Wangen einfielen, ihre

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