Klippen
Rippen hervortraten, ihre Beine dünner und dünner wurden, ihr Oberkörper, den zu streicheln ich nicht mehr über mich brachte, zerbrechlich wie Glas und ihre Brüste fast verschwanden. Noch heute frage ich mich, wie sie sich auf den Beinen halten konnte. Sie kippte lediglich ein, zwei Gläser Fruchtsaft am Tag hinunter und erbrach alles, was ich sie zu essen drängte. Ich lud sie in Restaurants ein, kochte für sie. Ich haute das ganze Geld auf den Kopf, das ich sonntags auf den Märkten verdiente, indem ich Gemüsekisten auf-und ablud. Sie zwang sich zum Essen, um mir eine Freude zu machen. Aber nach der Mahlzeit verschwand sie jedes Mal auf dem Klo und kam kurz darauf mit geröteten Augen zurück. In ihr Parfum von Naf-Naf mischte sich ein vager Geruch nach Erbrochenem. Ich habe nie mit ihrer Mutter darüber gesprochen. Und auch mit niemandem sonst. Lediglich zum Arzt habe ich sie geschleppt. Ich hielt das für eine gute Idee. Sie folgte mir wie ein Roboter, ihre Hand in meiner wog weniger als Luft. Die Praxis hatte beige Tapeten und war mit abstrakten Gemälden dekoriert. Der Arzt war ein merkwürdiger Typ, er hatte etwas von einem in die Jahre gekommenen Schönling, sprach abgehakt und schnell, sah sie mit irrem Blick an und wollte, von den üblichen Symptomen einmal abgesehen, ständig wissen: »Und wie geht es Ihnen sonst?« Lorette kriegte die Zähne nicht auseinander, sie war äußerst schwach und fast durchsichtig. Ich hatte seit ein paar Tagen den Eindruck, sie könnte jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Sie klagte über heftige Migräneanfälle und schwänzte den Unterricht, um sich in ihr Zimmer zu flüchten und mitten am Nachmittag bei heruntergelassenen Jalousien wie eine Tote im Halbdunkel der stillen, leeren Wohnung im Bett zu liegen. Manchmal ging ich zu ihr und schlief neben ihr. Ich zog sie an mich, als könnte ich sie festhalten, aber sie glitt mir wie Sand durch die Finger. Obwohl die Wände dünn wie Papier waren, hörten wir zu gewissen Tageszeiten keinen Laut außer dem Geräusch unseres Atems. Ihrer drohte manchmal zu ersterben, und ich musste die Ohren spitzen, um ihn noch wahrzunehmen.
Drei Tage später war sie in Brunoy, in einer kleinen, baumumstandenen Klinik mit Mauern aus rotem Ziegelstein und gelben, orangefarbenen und rosa Buntglasscheiben. Ein paar Mal versuchte ich sie zu besuchen und fuhr durch den schlammigen oder durchsichtigen Wald, vorbei an Bürgerhäusern mit vorbildlichen Gärten, kurz geschorenen Rasen und Teakholzmöbeln, Sonnenschirmen und dunkelgrünen Tischtennisplatten, funkelnden Mountainbikes, am Bordstein parkenden neuen Autos und in der Sonne liegenden Spanieln, deren Pfoten den Kiesweg kaum berührten. Ich lehnte mein Fahrrad an den Zaun und ging zum Empfang. Der Rasen war mit großen Ahornblättern übersät. Ich suchte die Fenster ab, hoffte ihren Schatten hinter einem davon zu erahnen. Aber ich sah sie nie wieder. Sie ließ mich nie zu sich, traute sich nie, mit mir zu sprechen oder sich einfach nur zu zeigen. Ich sagte mir, dass sie mit der Zeit zugänglicher und es ihr bald besser gehen würde dank der ihr zuteil werdenden Pflege und Behandlung, über die ich nichts wusste und von deren Brutalität ich mir keine Begriffe machte. Doch nichts geschah. Laetitia hielt mich auf dem Laufenden, sie war darüber beunruhigt, dass Lorette sich in dieser Einrichtung offenbar ausgesprochen wohlfühlte. Anscheinend hatte sie es nicht eilig, herauszukommen, oder, anders herum: Nachdem sie allmählich zu einem normaleren Essverhalten zurückgefunden hatte, hielt sie einzig und allein die panische Angst vor der Entlassung zurück, und sie begann zu zittern und vor Schreck zu heulen, wenn man diese Möglichkeit nur erwähnte. Sie blieb ein Jahr in der Klinik. Sie war noch dort, als ich von zu Hause auszog. Ich schickte ihr Briefe, beschrieb ihr die Stadt und das Leben, das dort nie stillstand, den Fluss bei Dunkelheit, die von grellen Neonschildern zerrissene Nacht, die Gehsteige, über die ohne Unterlass Menschen trampelten, die Bars die Gärten die Lichter, alles, was wuselte und nach Geräuschen, Geschwindigkeit, Musik, Worten und Lärm gierte. Sie schrieb nie zurück, und meine Briefe wurden mit der Zeit immer seltener. Ich habe keine Ahnung, was aus ihr geworden ist, ob sie lebt, ob sie die Klinik verlassen hat. Ich stelle sie mir für alle Zeiten abgeschottet in ihrem Zimmer vor, mit Blick auf den gefrorenen Park, das vom Raureif starre Gras, die kahlen Bäume vor
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