Klippen
verbrachten wir auch viel Zeit bei Nicolas. Antoine und er hatten sich eines Tages in einem Café kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Ich mochte ihn gern. Nicolas war ein verschlossener, schüchterner und schweigsamer Junge. Er war hoffnungslos in Laetitia verliebt, sprach aber nie darüber. Er trug sein sehr glattes Haar lang und seine Brille so, dass die Bügel zu sehen waren. Meistens hockte er vor seinem Computer und entwickelte komplizierte, obskure Programme, von denen wir nichts verstanden, und manchmal verschwand er ganze Wochenenden, um mysteriöse Rollenspiele zu spielen. Seine Mutter war Krankenschwester, sie hatte Nachtdienst, und wenn wir in das kleine Haus ganz hinten am Ende des schmalen Gartens kamen, blieb sie in ihrem Zimmer und schlief Wir bekamen sie fast nie zu sehen, aber sie war sanftmütig und nett. Sie rauchte viel und ernährte sich ausschließlich von Kaffee. Ab und zu setzte sie sich in einem abgetragenen alten Morgenmantel aus Baumwolle an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an. Durch die offene Tür warf sie uns liebevolle Blicke zu. Manchmal machte sie uns Steaks, Pommes frites oder Hamburger oder setzte sich zu uns, wenn wir auf dem durchgesessenen Sofa mitten im tristen, schmucklosen Wohnzimmer lümmelten und uns Videos, Roland-Garros oder die Tour de France ansahen. An ihren freien Abenden blieb sie auf und schaute sich mit uns auf M6 einen dieser Erotikstreifen an, in denen Männer und Frauen beim Kopulieren auf Tierfellen ihren Slip anbehalten, während ein Saxofon die Sinnlichkeit des Augenblicks untermalt.
Meistens gingen wir hinunter in den Keller. Nicolas hatte dort einen Tischkicker mit verbogenen Stangen, einen antiquierten Flipper, ein zusammengeschustertes Schlagzeug, auf das er wie ein Schwerhöriger eindrosch, und hochbeinige Hocker aus der Zeit, als sein Vater eine Bar im Stadtzentrum betrieb. Die Bar war nie gut gelaufen, und die Stadt hatte eigentlich nie ein Zentrum gehabt. Jetzt arbeitete sein Vater in Rungis und lud Paletten mit Blumen, Fleisch oder Gemüse ab, je nach Wochentag. Er kam nach der Arbeit nie sofort nach Hause, sondern hing Stunden im Wettbüro herum, und wenn man ihm zufällig über den Weg lief, spürte man, dass man nicht willkommen war. Er schwitzte Alkohol aus, und seine gelben Augen saßen tief im scharf geschnittenen Gesicht. Manchmal kam er in den Keller, musterte uns wortlos, spuckte auf den Boden und holte seinen Karabiner. Ganz langsam nahm er uns ins Visier und brach in schallendes Gelächter aus, das uns das Blut in den Adern gefrieren ließ. Danach lud er das Gewehr durch und ging in den Garten. Dort reagierte er sich ab, indem er stundenlang auf Flaschen ballerte. Die Nachbarn beschwerten sich über den Krach, aber das ließ ihn kalt. Neben der Garage bewahrte er rostige Fässer auf, die er mit Wasser füllte. In der trüben Brühe schwammen riesige Welse, die er sonntags vom Angeln mitbrachte. Er holte sie aus der Seine und ließ sie krepieren. Außerdem züchtete er Kaninchen. In Rudeln drängten sie sich in den Käfigen hinten auf dem Grundstück, kackten das Stroh voll und knabberten mit leerem Blick Karotten und Kartoffelschalen. Ich habe keine Ahnung, was er mit ihnen vorhatte. Ich weiß nur, dass Nicolas sie füttern und ihre Käfige sauber machen musste und dass er die Viecher nicht ausstehen konnte.
Wir verbrachten viele Stunden, Abende, ja, ganze Tage im finstren Keller. Wir schleppten das Bier packweise nach unten, wir rauchten von morgens bis abends, bis unsere Augen glänzten und unser Hirn vernebelt, betäubt und vergesslich war. Luis brachte seine Gitarre mit, Alex seine Bassgitarre, und mit Nicolas am Schlagzeug verhunzten sie Smells like teen spirit, Come as you are und Hey Joe. Lorette und Laetitia waren auch dabei. Wir verdrückten uns in eine dunkle Ecke, vögelten zwei Schritte von den anderen und taten so, als merkten wir es nicht. Lorette blies mir im staubigen Keller einen, ich nahm sie auf dem Zementboden, und Spinnweben verfingen sich in ihrem Haar. So verging die Zeit, wir schlugen sie tot, indem wir sie in Alkohol ertränkten, in Musik und Licht ersäuften, mit Sperma und Küssen zudeckten.
Als wir Nicolas das letzte Mal sahen, war sein Kopf kahlgeschoren. Sein Vater hatte ihm mit dem Gewehrkolben eins übergezogen. Es war nicht das erste Mal. Seine Mutter hatte die Wunde versorgt und genäht. Er trug einen Verband direkt über der Stirn. Er erzählte uns alles frei heraus,
Weitere Kostenlose Bücher