Klippen
Anziehungskraft. Er entschied, wo wir uns trafen, besorgte Gras, Shit und später Ecstasy, er brachte jede Woche selbst aufgenommene oder geklaute Kassetten mit Musik mit, die weder im Fernsehen noch im Radio gespielt wurde. Und er verteilte Bücher, die er bei Gibert stahl. Vian, Bukowski, Celine, Kerouac, Salinger. Ich begleitete ihn überallhin, und unser Leben begann gewissermaßen erst, sobald wir das Schultor hinter uns gelassen hatten. Ich nahm wie ein Gespenst am Unterricht teil, ließ mich mit niemandem ein, lauerte geduldig auf die Schulglocke. Antoine wartete am Tor auf mich. Er unterhielt sich mit Nicolas, Luis oder Karim, brach, wenn er mich sah, mitten im Satz ab, verwuschelte mein Haar und sagte: »Los geht’s.« Wir verbrachten so wenig Zeit wie möglich zu Hause, um den Wutanfallen unseres Vaters und der unsichtbaren, aber beharrlichen Präsenz unserer Mutter zu entgehen. Das wahre Leben fand woanders statt, und es pulsierte. Das wahre Leben steckte in Laetitias Umarmungen und Lorettes Küssen.
Sie wohnten im zwölften Stock eines perlgrauen Hochhauses am äußersten Rand der Siedlung Youri-Gagarine. Von ihren Fenstern aus konnte man unser Haus und weiter hinten den Fluss, die Staatsstraße sowie, etwas unterhalb, den künstlichen Teich sehen. Nachts ließen die Scheinwerfer der Autos Lichterketten oder Staubkegel entstehen. Noch ein Stück weiter liefen hinter dem Bahnhof mit den metallisch glänzenden Zügen die Gleise zusammen und gabelten sich wieder, sie bildeten sonderbare Streckenverläufe. Die Autobahn führte nach Westen, und mit der Stirn an der kalten Fensterscheibe sahen wir uns das alles an. Antoine fand, wir sollten fortgehen, mit den Zügen den Lastwagen den Autos wegfahren, den Lichtern bis ans Meer folgen, und Laetitia hörte ihm zu. Sie flüchtete sich in seine Arme, und er drückte sie, als sei sie das Einzige, was ihn auf dieser Erde hielt. Lorette starrte weiter das Netz der Abreisen an, auf dem alles in die Ferne strebte, in ihren Augen lag ein irrer Ausdruck, und in ihren Adern kochte das Blut, es war, als wollte etwas aus ihr heraus.
Ich erinnere mich auch noch an den Sommer in ihrer Wohnung, Antoine und ich mit nacktem Oberkörper auf dem Bett, Lorette und Laetitia nur mit Slip und Trägerhemdchen bekleidet, unsere vier Köpfe berührten sich, trafen in der Mitte des Bettes aufeinander, und wir bildeten einen Stern. Die Augen an die Decke gerichtet oder geschlossen, streichelte Lorette meinen Arm. Die Musik wummerte unter unseren Schädeldecken, das Gras bahnte sich einen Weg in unsere Lungen, durch unsere Adern, und mit den Fingerspitzen berührte ich sacht ihre Schenkel, ihre winzige Brust, auf der sich Schweißperlen bildeten. Unsere Körper drängten sich aneinander, ich schlang die Arme um sie, und mein Mund suchte ihren Mund. Sie spürte mein aufgerichtetes Glied an ihrem Bauch, sagte aber nichts oder höchstens, wie ein Stoßgebet, Drück mich, drück mich fest.
Oft schnauzte Antoine uns an, wir sollten verschwinden, ihn mit Laetitia allein lassen. Wir stellten den Fernseher auf volle Lautstärke und legten manchmal sogar noch eine Platte auf trotzdem hörten wir sie vögeln, und ich könnte schwören, sie weinten beide dabei. Lorette saß mit dem Rücken zur Wand, mein Kopf lag auf ihren dünnen, straffen Schenkeln, und sie lutschte Daumen. Sie sah aus wie ein Kind, und wenn ich es mir recht überlege, war sie das auch. Wir waren damals dreizehn, vierzehn oder fünfzehn, und unsere Augen glänzten vom Alkohol. Manchmal verließen wir die Wohnung. Ich nahm eine Flasche Wodka mit, die ich in meine Tasche schob. Wir setzten uns auf eine Bank, die Hochhäuser überragten unsere Köpfe wie riesenhafte Schatten, und wenn es dunkel wurde, leuchteten die Fenster eines nach dem anderen auf und spiegelten sich in winzigen, trüben Lachen aus goldenem Licht im Wasser. Ich ließ flache Kieselsteine über die Oberfläche flitzen.
Lorette schlotterte, ihr war immer kalt, ich zog sie an mich und spürte in ihr so etwas wie eine uralte Angst, einen Riss, den nichts je würde kitten können. Sie weinte oder zitterte dann noch stärker, unter ihren Augen liefen schwarze Tränen herab, ich küsste sie, und sie biss mir in die Zunge. Später kamen Antoine und Laetitia dazu. Sie gingen nicht mehr ganz gerade, und Antoine zog sich am Ende immer die Schuhe aus, krempelte die Hose bis zu den Knöcheln hoch und watete ins schlammige, graugrüne Wasser.
Damals
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