Klippen
dem blauen Himmel.
Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass ich nichts über Lorette wusste. Wer war sie eigentlich? Wen habe ich all die Jahre geküsst? Welchen dünnen Körper mit blass durch die Haut schimmernden Adern habe ich gestreichelt, liebkost, durchdrungen, entdeckt, aufgewühlt? Ich erinnere mich an ein stilles, unbändiges Kind mit heiserer, belegter Stimme und Augen, die immerzu glänzten, als wären sie von einem zitternden Film aus Wasser bedeckt. An ein tanzendes Mädchen, von dessen Händen Rauchspiralen aufstiegen. An Lorettes Arme, die mich umfingen, meinen Kopf an ihrer Schulter, ihre Lippen am Hals irgendeiner Flasche, ihre Füße, die unter der grün gestrichenen Holzbank auf dem Sandboden tänzelten. Ich erinnere mich an ihren verlorenen Blick vor ihrem Zimmerfenster, an ihre Augen vor dem Horizont aus Zement, aus Tausenden zusammengepferchter Menschen, Betonpisten, Eisenbahnschienen, Häusern und fernen Wäldern, dem Horizont aus erleuchteten Fenstern und hinter jedem von ihnen, auch wenn man sich das nicht vorstellen mag, Tausende von eintönigen Leben ohne Logik. Lorette am Seeufer, wie sie gleich einer Schlafwandlerin auf Zehenspitzen über die schmale Einfassung, zwei Fingerbreit vom Wasser, balancierte. Lorette in der Schule, wie sie aus vollen Lungen in ihre Blockflöte blies und ihr unerträgliche Piepstöne entlockte oder wie sie La chasse aux papillons von Brassens mitgrölte. Lorette in der Zeichenstunde, wie sie sich die Finger mit Filzstift oder Farbe beschmierte. Lorette zu Beginn des Schuljahres, wie sie den Fragebogen ausfüllte und neben dem Vermerk »Vater« mit schwarzem Filzstift in Großbuchstaben »TOT« schrieb, obwohl er gar nicht tot, sondern eines Tages vor langer Zeit, wenige Monate nach ihrer Geburt, drei Jahre nach Laetitias, fortgegangen war, irgendwo in die Nähe oder ans Ende der Welt, allein oder mit einer anderen, ohne eine Adresse, eine Entschuldigung oder Erklärung zu hinterlassen, nur ein unerklärliches Schweigen, ohne ersichtlichen Grund, ohne dass man damit rechnen oder es hätte vorausahnen können, fortgegangen und nie zurückgekommen, und nie wieder der Klang seiner Stimme am Telefon, seine Schrift auf einem Bogen Briefpapier, auf dem Karton einer Postkarte. Lorette im Wald, ihre Haut orange vom Widerschein des Feuers, einen Joint zwischen den Lippen und mit den Füßen einen wilden Rhythmus stampfend, das Haar von vereinzelten Schneeflocken bedeckt, die am vollkommen weißen Himmel umherwirbelten, Erde und Baumstämme benetzten und mit leisem Knistern in den Flammen vergingen. Lorette, wie sie mir mit speichelfeuchten Zähnen in die Zunge biss, und in ihrem und meinem Mund der gleiche Geschmack des gleichen Blutes. Lorette, wie sie in Gelächter ausbrach, ihr seltsames Gelächter wie das eines weinenden kleinen Mädchens in einem lärmigen McDonald’s, im Quartier des Halles oder entlang der Staatsstraße; wie sie kreischte, wenn sie auf dem Damm des Pont-Neuf über der Seine balancierte, wie sie über den Schleppkähnen und dem dunklen Wasser vor Lachen kreischte, wie sie vor Lachen kreischte in dem großen, durchgesessenen Sessel, in dem Nicolas, das Gewehr auf den Knien, auf seinen Vater wartete und, als er ihn kommen sah, nach kurzem Zögern beschloss, dem alten Schwachkopf das entsetzliche Bild des eigenen Sohnes, der sich den Gewehrlauf in den Mund steckt, und dessen in alle vier Kellerecken spritzenden Gehirns darzubieten. Lorette, wie sie vor Kälte zitterte, und ihre Tränen, wenn wir vögelten, ihr langer, milchweißer Körper, das tiefe Schwarz der Haare unterhalb des flachen, später unglaublich eingesunkenen Bauchs, ihr lockiges Haar auf ihren winzigen Brüsten, der Schweiß auf ihrer Stirn, und im Sommer ihre rosa Betttücher und die durch die schwarzen Plastikjalousien gefilterten, an die Wand geworfenen Lichtbalken. Lorette unter den großen Bäumen, wie sie, in ihren Schal eingemummt und den Kopfhörer ihres Walkmans auf den Ohren, rauchend auf dem Mäuerchen am Gymnasium hockte, Lorette, wie sie wegen einer Nichtigkeit weinte, wegen eines traurigen Lieds, eines Toten im Kino, drei Zeilen in einem Buch, als weine sie untröstlich wegen etwas ganz anderem, über das ich nie etwas erfahren habe. Lorette, wie sie hinter mir auf dem Fahrrad stand und sich an meinen Hüften festhielt, während wir durch die lindengesäumten Straßen und an den verwahrlosten Gärten mit den bissigen Hunden vorbeifuhren, wie sie
Weitere Kostenlose Bücher