Klippen
Ware gelöscht oder aufgeladen werden musste. Er machte dort ein paar Einkäufe, trank manchmal in einer Bar ein Glas Wein, und schon musste er wieder los. In der übrigen Zeit arbeitete oder schlief er, das war alles. Es war ein körperliches, ein abstumpfendes Leben, ein Rausch aus Wind und Müdigkeit, aus schlaflosen Nächten und anderen voll bleiernem Schlaf Zigaretten, Kartenspielen und Alkohol, und dem war nichts hinzuzufügen. »Und du? Wie geht’s dir so?« Er fragte nicht nach unserem Vater, und das war auch besser.
Im Grunde hatten mein Bruder und ich uns nie unterhalten. Wir hatten nie ein Gespräch geführt. Wir hatten uns nichts zu erzählen, nichts zu beweisen, wir liebten uns zutiefst, das war alles. Wir hätten uns damals einfach nur in den Arm nehmen sollen, aber wir trauten uns nicht. Bevor er ging, sagte er nur mit zusammengepressten Zähnen und ins Ungefähre gerichtetem Blick, dass ihn die Stimme meines Vaters überallhin verfolgte, egal, wohin er ging, dass sie ihn überall heimsuchte und ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, und selbst wenn er Tausende von Kilometern zurücklegen oder völlig verschwinden würde, würden ihn die eisige, aufgebrachte Stimme unseres Vaters, seine eiskalten Augen, sein hartes, undurchdringliches Gesicht und die unendliche Bedrohung seiner Wut begleiten und ihm die Kehle zuschnüren, sein Magen würde sich verkrampfen, und er würde sterben wollen, ohne zu wissen, warum.
Wir schlenderten eine Weile durch die Straßen, in denen Laternen und Leuchtreklamen ihre künstliche Wärme verbreiteten. Am Rand der Place Blanche zeigte mir Antoine das Hotel, in dem er abgestiegen war. Es war ein schäbiges Gebäude mit bröckelnder, vom Licht der Lampen rötlich gefärbter Fassade. Vor dem Schlafengehen wollte er noch durch die Bars ziehen, ein bisschen Musik hören, ein paar Gläser trinken, und mit halbherzigem Lächeln vertraute er mir an, dass er hoffe, nicht allein zurückzukehren. Ich ließ ihn stehen, drehte mich im Weggehen mehrmals um, und als ich in die Rue Fontaine einbog, sah ich, wie er eine der Peepshows für Touristen neben dem Moulin-Rouge betrat. Ich ging die steilen Straßen hinunter, Tränen nahmen mir die Sicht, mein Bruder und ich hatten uns verpasst, und das sollte fast jedes Mal so sein.
Ich weiß nicht mehr, wann wir uns zum letzten Mal trafen. Ich lebte schon mit Claire zusammen, hatte gerade mein erstes Buch herausgebracht oder stand kurz davor. Es war in Marseille, er hatte mich zwei Monate zuvor angerufen, um sein Kommen anzukündigen, ich war hingefahren, um ihn zu sehen, und es war das letzte Mal. Wie lange habe ich seitdem nichts von ihm gehört? Fünf Jahre vielleicht. Ein bisschen weniger, ein bisschen mehr, ich weiß es nicht mehr. Mein Bruder ist sozusagen auf dem Meer verschollen. Oft setze ich mich auf mein Motorrad, lasse den Stadtrand von Douarnenez hinter mir und fahre nach Brest, ich treibe mich stundenlang am Frachthafen zwischen den Kränen der riesigen Lagerhallen und in den winzigen Bars herum, wo im Stehen und mit einer Zigarette zwischen den Zähnen getrunken wird, und schaue zu, wie die Gabelstapler gewaltige Paletten bewegen oder die Container sich in der Luft drehen, bevor sie auf dem Kai abgesetzt werden. Ich beobachte die Hafenarbeiter und mustere auch die Männer, die auf der Brücke geblieben sind, ich irre zwischen den Duschen, Kantinen und kleinen Selbstbedienungsläden herum, in denen sie sich mit Rasierklingen, Zahnpasta, Seife, Deodorants, Schokoriegeln, Alkohol, diversen Zeitungen, Keksen und Zigaretten eindecken. Ich suche in ihren gegerbten, vorzeitig faltig gewordenen Gesichtern mit der rissigen Haut und roten Stirn nach dem sanften Gesicht meines Bruders, suche in ihren drahtigen Körpern die zierliche Gestalt meines geflohenen Bruders. Aber nie hat mein Herz in der Brust zu rasen begonnen, weil ich ihn zu sehen glaubte. Nie. Mein Bruder war verschwunden, ja, genau das schien er von Jahr zu Jahr, von Begegnung zu Begegnung, von Zwischenstopp zu Zwischenstopp zu tun: verschwinden. Jedes Mal erkannte ich ihn ein bisschen weniger, seine alten Gesten traten hinter neuen, sein Lächeln, sein Auftreten, sein Gesicht hinter einem anderen Lächeln, einem anderen Auftreten, einem anderen Gesicht zurück. Mein Bruder verwandelte sich, indem er sich auslöschte und neu erschuf, und in diesem unumkehrbaren Prozess war ich schon bald das einzige Überbleibsel aus einem vergangenen Leben, das er
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