Klippen
Fetzen von der Wand lösenden feuchten Tapete, dem von hohen Gräsern, Klatschmohn, Brennnesseln und Champignons, die man eher im Schatten eines Kernkraftwerks vermutete, überwucherten Garten.
Mein Bruder ging eines Nachts ohne ein Wort der Erklärung. Er kam in mein dunkles Zimmer, in dem ich mithilfe einer unter meinem Kopfkissen versteckten Taschenlampe bis spät in die Nacht las, noch lange nach dem Löschen der Lichter, das mein Vater auf elf Uhr festgesetzt hatte, weil er in Ruhe schlafen wollte und ihn sogar das Licht in meinem Zimmer störte, obwohl er es nicht sehen konnte. Es war Mitternacht, und Antoine war angezogen, er trug seine Lederjacke offen über seinem schwarzen T-Shirt und eine Umhängetasche. Ich stellte meinen Walkman leiser und nahm den Kopfhörer ab. Er winkte mir kurz zu und sagte knapp: »Ich gehe«, und ich sah ihm an, dass er gegen die Tränen ankämpfte. Ich stand auf und nahm ihn in den Arm. Ich flehte ihn an, mir zu sagen, wohin er ging, ob er wiederkommen, an mich denken, mir schreiben würde und ob ich eines Tages zu ihm kommen dürfe. Ganz langsam befreite er sich aus meiner Umarmung und lächelte mir matt zu, bevor er auf der Treppe verschwand. Vom Fenster aus sah ich ihm nach, wie er sich mit ruhigem Schritt entfernte. Ich sagte mir, dass er den letzten Zug nehmen und in Paris auf der Straße oder auf einer Bank an der Gare de Lyon schlafen würde, bevor er für immer fortging, Gott weiß, wohin.
Drei Monate hörte ich nichts von ihm. Manchmal klingelte das Telefon, und mein Vater hob ab. Ich hörte, wie er immer wieder »Hallo« und Antoines Namen sagte, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Mehrmals versuchte ich ihm zuvorzukommen, vor ihm am Telefon zu sein. Es gelang mir nie.
Es war Oktober, und ich war allein zu Hause. Die Stimme meines Bruders meldete sich, und mein Kopf platzte fast vor Glück. Er rief mich aus Dakar an, er hatte bei der Handelsmarine angeheuert, sein Schiff machte dort einen kurzen Zwischenstopp. Wir sprachen kaum miteinander. Ich war einfach nur glücklich, dass er lebte, dass ich mir sein Leben auf hoher See, in den Häfen und im Maschinenraum vorstellen konnte. Sechs Monate später war er für ein paar Tage in Frankreich. Er kam nicht nach Hause, sondern verabredete sich mit mir in Paris. Eigentlich kannte ich die Stadt gar nicht richtig, nur als Tourist, als Gymnasiast, der ab und zu eine Spritztour zu den Champs-Élysees oder ins Quartier des Halles gemacht hatte. Mein Bruder hatte sich mit mir in einem Café an der Place des Abbesses verabredet. Das ist nicht allzu lange her, aber man muss sich vorstellen, wie anders dieses Viertel damals und dass Paris ganz allgemein eine andere Stadt war. Ich wartete vor der Tür auf ihn, ich traute mich nicht hinein, weil ich überzeugt war, dass man mich schief ansehen und hinauswerfen würde. Er kam fast im Laufschritt auf mich zu, und sein ledriges, sonnengebräuntes Gesicht stand im Kontrast zur bleichen Haut der Pariser am Ende des Winters. Antoine hatte sich verändert. Sein Gesicht war in wenigen Monaten um Jahre gealtert, sein Körper hatte etwas zugelegt, ein dichter Bart bedeckte sein Gesicht, und die Augen traten aus den Höhlen. Das Haar kurz geschoren, der rechte Arm von oben bis unten tätowiert, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ihn mal gekannt hatte.
Wir betraten das Café, und ich setzte mich ihm gegenüber. Aus den Lautsprechern drangen alte Songs von den Doors, er bestellte einen halben Liter Wein und wollte wissen, wie es mir ging. Ich antwortete ihm ausweichend. Ich starrte ihn an. Er hatte sich so verändert. Ich nahm einen kräftigen Schluck. Um uns herum saßen Grüppchen von Gymnasiasten und Studenten, die keine Ähnlichkeit mit uns hatten und aussahen, als gehörten sie einer anderen Spezies an, einer geschützten Spezies. Sie trugen Samtjacketts, Seidenschals und das Haar mittellang, Jungs wie Mädchen. Sie hatten geschliffene Umgangsformen, rauchten mit gezierten Bewegungen, lachten, ohne dabei vulgär zu wirken, sprachen über Musik, Kino, Literatur. Mein Bruder und ich fühlten uns in ihrer Mitte verloren, wir sahen uns an, wir waren allein auf der Welt, ausgeschlossen, gehörten definitiv nicht dazu. Antoine bestellte noch einen halben Liter, ich befragte ihn zu seinem Leben, aber da gab es nicht viel zu erzählen. Er arbeitete auf einem Schiff, war wochenlang auf See, mitten im Nichts, legte in fremden Städten an, von denen er nur den Hafen und die Kais sah, auf denen die
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