Klippen
übergab.
Nach unserer ersten Begegnung verstrichen mehrere Tage, ich stand nachts an der Rezeption eines Hotels, sie verbrachte ihre Tage an irgendeiner Fakultät von Paris, und obwohl unsere Zimmer nebeneinander lagen, war es, als existiere sie nicht, als sei sie nie nebenan eingezogen, als sei sie lediglich eine nebulöse, fahle Erscheinung gewesen. Eines Abends im Dezember weckte mich ihre Stimme. Ihr Atem drang durch die Trennwand, gelangte wie in einem Traum an meine Ohren. Ich schlug die Augen auf, ihr Bett musste die Verlängerung meines Bettes sein, wir lagen Kopf an Kopf die Haare nur durch die dünne Gipswand getrennt. Sie stöhnte mit schrecklich kindlicher und zugleich anrührender Stimme. Am nächsten Morgen lief ich auf dem Flur einem Kerl über den Weg, der gerade aus ihren Zimmer kam. Er war bestimmt schon fünfzig, hatte einen Schmerbauch und winzige Augen.
Das wiederholte sich häufig. Ich begegnete ihr lange nicht, und der einzige Hinweis auf ihre Anwesenheit ließ sich abends vernehmen. Meist gingen die Typen ein paar Stunden, nachdem sie ein sattes Röcheln ausgestoßen hatten, das durch die Wand drang. Ich stand auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit, ich sah sie vorbeigehen, und es waren nie dieselben.
Ich sah Léa erst gegen Ende des Winters wieder. Das Leben in Paris wurde wieder erträglicher, die Stadt war nicht länger in Dunkelheit und in die künstliche Wärme der Lampen getaucht, die sich auf den Motorhauben der Autos und den regennassen Trottoirs spiegelten. Léa schien mir an diesem Tag gealtert. Sie holte ein paar Sachen aus ihrem Zimmer, ihre Eltern waren für zwei Tage verreist, sie wollte die Nacht drei Etagen tiefer in den Zimmerfluchten mit ihrer erdrückenden, muffigen Einrichtung verbringen. Ich fragte sie, ob sie allein sein würde, und sie bejahte mit seltsamem Lächeln. Dann fugte sie hinzu, wenn ich wolle, könne ich sie besuchen. Ich brauche nur gegen zwanzig Uhr am Lieferanteneingang zu läuten.
Sie öffnete mir mit ausdruckslosen, müden Augen. Etwas in ihr schien unwiederbringlich abgestorben zu sein und löste in mir den Wunsch aus, sie in den Arm zu nehmen und auf die Stirn zu küssen, nachts über sie zu wachen, sie von welchem Fieber auch immer zu heilen. Ich folgte ihr in die verdichtete Stille des Salons, sie machte es sich auf dem Sofa bequem und zog die Füße unter ihre Beine, sodass ihre Knie zu mir zeigten. Ich schenkte zwei Gläser Whisky ein, und ihr Gesicht bewegte sich kaum merklich im Kerzenschein. Ich weiß nicht mehr genau, worüber wir an diesem Abend redeten, ich erinnere mich nur an ihren Blick, ihre schmale Nase, den Geschmack des Alkohols und die Samtsessel, ihr Kleid aus schwarzer Baumwolle, den Lidstrich unter ihren Augen. Ich hatte schon reichlich getrunken, als ich sie küssen wollte. Sie befreite sich behutsam von mir und sagte lächelnd: »Du weißt doch, dass es da jemanden gibt.«
Worauf ich einfach nur zurückfragte: »Und die anderen?«
»Welche anderen?«
»Die anderen. Die du mit aufs Zimmer nimmst. Die Typen, denen ich auf dem Flur begegne.«
»Sie zählen nicht.«
»Was soll das heißen, sie zählen nicht?«
»Wie ich es sage: Sie zählen nicht.«
Ich hakte nicht nach. Ich füllte unsere Gläser, legte eine alte Vinylscheibe auf den Plattenteller und forderte Léa zum Tanzen auf Sie erhob sich mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, und ein Funkeln in ihren Augen sagte mir, dass ich gerade einen Punkt gemacht, dass ihr meine ausbleibende Reaktion gefallen, sie meine Aufforderung, zu mir auf die Mitte des Perserteppichs zu kommen, gerührt hatte. Wir tanzten zwischen den Stillleben. Das aristokratische Muster der Tapeten drehte sich endlos, zitterte im flackernden Kerzenschein. Sie schmiegte sich eng an mich, leicht und zerbrechlich, ihr Schlüsselbein war dünner als eine Nadel. Meine Arme umfingen ihren ganzen Körper, und mir kam es so vor, als könnte sie bei der leisesten Bewegung zerspringen wie Glas auf Marmor. Meine Augen schlössen sich im Duft ihrer Haare, ihre waren schon lange zu, die Platte lief endlos, spielte immer wieder einen langsamen Walzer, der uns gefiel. Als ich die Augen wieder öffnete, benetzten Tränen mein Hemd. Sanft schob ich sie ein Stück von mir. Mit den Fingerspitzen tupfte ich ihre Tränen weg, und noch heute spüre ich ihren Mund auf meinem, spüre ich ihre Hingabe, als wäre es gestern gewesen. Den Kopf auf meiner Schulter, schlief Léa auf dem Sofa ein. Wir lagen
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