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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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ganzes Talent als Geschichtenerzähler zusammenkratzen muss, weil seine Erfahrungen mit Frauen beschränkt sind und er als Letztes einen Mann geküsst hat. Das Erfinden von Eroberungen und Perversionen strengt ihn derart an, dass er in kalten Schweiß ausbricht. Wachposten zu überwältigen und vor Gewehren davonzulaufen war einfacher.
    Aber es scheint zu funktionieren. Sexmaniac lacht schallend, haut mit der Hand aufs Lenkrad des Nash. Der haben Sie’s gezeigt, ruft er. Der haben Sie’s ganz schön besorgt, hab ich recht, Kumpel? Und wie! Was dann?
    Willie zeigt nach vorne. Princeton Junction – nächste Ausfahrt.
    Sexmaniac hält an. Willie steigt aus. Zum dritten Mal in dieser Nacht kommt er mit knapper Not davon. Sexmaniac sagt, er soll kurz warten. Er schreibt eine Telefonnummer auf ein Streichholzheft und reicht es Willie.
    Wenn Sie nächstes Mal in Princeton sind, rufen Sie mich an, Kumpel, ich wohne gleich hinter diesem Hügel. Dann essen wir zu viert zu Abend, mein Mädchen und ich und Sie mit Ihrem.
    Klar, sagt Willie. Ach, apropos Essen, ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen, und eben fällt mir ein, dass meine verdammte Brieftasche im Chevy liegt. Und zu meiner Schwester ist es ein langer Weg.
    Sexmaniac hebt die Hand. Er leiht Willie nur allzu gern zwei Dollar.
    Willie marschiert los, bis er zu einem durchgehend geöffneten Diner kommt.
    Einen Kaffee, bitte. Und ein Brötchen mit Butter.
    Auf der Theke liegt ein
Star-Ledger
. Er blättert ihn durch. Nichts über den Ausbruch. Noch zu früh. Trotzdem sieht die Kellnerin ihn komisch an. Vielleicht kam es schon im Radio in der Küche. New York, denkt er. Er muss nach New York kommen. Dort fällt er nicht auf. Dort merken die Leute nichts, weil jeder vor etwas auf der Flucht ist.
    Die Kellnerin beäugt ihn immer noch.
    Willie befeuchtet einen Finger, fährt damit um den Tellerrand und pickt Krümel auf. Er ist ausgehungert, möchte aber nicht sein letztes Geld ausgeben. Er steht auf und lächelt der Kellnerin zu. Na schön. Ich schieb mal lieber wieder ab.
    Er spürt ihren Blick bis draußen vor der Tür.
    Willie macht sich auf den Weg zur Straße, stößt aber schon bald auf den Campus der Universität. Er bleibt stehen, nimmt alles in sich auf. Ach, hier zu studieren. In dieser wunderschönen Bibliothek zu sitzen und einfach nur Bücher zu lesen. Sich absolut sicher zu sein, dass man eine Zukunft hat und dass sie golden ist. Warum haben manche Menschen so ein Glück? Mit vor Neid zerfressenem Herzen umrundet er einmal die Bibliothek, dann macht er sich wieder auf die Suche nach dem Highway. Er geht auf Nebenwegen, Schotterstraßen, verliert die Straße ganz. An manchen Stellen reicht ihm der Schnee bis an die Knie. Bis zur Hüfte. Besser als Scheiße, sagt er laut.
    Ein streunender Hund knurrt und geht auf ihn los. Zähne, weiß wie der Schnee. Willie kümmert das nicht. Seine völlige Gleichgültigkeit verschreckt den Hund.
    Am liebsten würde er heulen, aber seine Tränenkanäle sind eingefroren. Seine Ohren ebenso. Er legt die gewölbten Hände darüber. Sie fühlen sich an, als könnten sie zerbrechen und vom Kopf fallen. Beim Erklimmen eines Hügels verliert er den Halt, fällt rückwärts und schlägt mit dem Steißbein gegen einen Baum. Er kommt wieder auf die Beine, klettert erneut hoch und über die Kuppe, stapft durch Wald, der so dicht ist, dass Willie kaum zwischen den Bäumen hindurchkommt.
    Seine Kleider gefrieren allmählich. Sie fühlen sich an wie eine Rüstung. Er hört eine Stimme, dreht sich einmal im Kreis. Wer ist da? Warum hat er Freddie die . 38 er gelassen? Zeig dich, brummt er.
    Über ihm. Er schirmt das Gesicht ab und blickt hoch. Eine Schleiereule von der Größe eines Kleinkinds sitzt auf einem niedrigen Ast und mustert Willie mit senfgelben Augen. Jetzt kräuselt sie die Stirn und entfaltet langsam ihre Flügel. Racheengel. Willie fragt sich, ob Freddie wohl schon erwischt worden ist.
    Er läuft immer weiter und verliert jeden Orientierungssinn. Zum Teufel mit dem Highway, er muss einen Schlupfwinkel finden, auf der Stelle, sonst ist er erledigt. Wie gern würde er umfallen, sich einigeln, Schluss machen. Noch ein bisschen weiter, mahnt er sich. Stück für Stück. Durchhalten. Er kommt zu einer Lichtung, einer Farm, einer alten schiefen Scheune. Er klopft an die verrottete Tür, tritt dagegen.
    Rechen, Sensen, Sättel, ein Traktor. Er klettert auf den Heuboden, vergräbt sich in einer Ecke. Der Wind pfeift

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