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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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aus Fußfesseln steigt. Wie konnte ihm das bisher entgangen sein? Er schaut und schaut und streckt plötzlich den Arm aus und greift nach der Statue. Ich hab verstanden, ruft er und lächelt. Ich hab verstanden, Schätzchen.
    Er klettert nach unten und entfernt sich von der Holzreling.
    Ich hab verstanden.
     
    Knipser fährt auf die Fähre. Sobald der Polara hält, steigt Sutton aus, humpelt zur Reling und schaut aufgeregt übers Wasser. Er zeigt auf die Statue. Seht mal, sagt er. Da ist sie. Herrgott, ist sie nicht schön?
    Knipser wischt den Beschlag von seinem Objektiv und fotografiert den auf die Statue zeigenden Sutton.
    Wusstet ihr, dass die Insel, auf der sie steht, früher ein Gefängnis war?
    Tatsächlich?, sagt Knipser. Das kann nicht sein.
    Am Morgen nach meinem Ausbruch war ich hier und am Rande der Verzweiflung. Nein, nicht am Rande. Ich war verzweifelt. Direkt hier. Ich war kurz davor, über Bord zu springen. Aber sie hat gesagt, ich soll es nicht tun.
    Sie hat das gesagt?
    Sutton wendet sich Schreiber zu. Sie redet, Kleiner. Sie ist die Schutzheilige der Gefangenen und hat mir befohlen weiterzumachen. Ich weiß, es gilt als schmalzig und spießig, die Freiheitsstatue zu lieben. Das ist, als würde man U. S. Steel oder Bing Crosby lieben. Aber wir suchen uns nicht aus, wen wir lieben. Oder was. Und an diesem Morgen bin ich ihr verfallen. Anders kann ich das nicht sagen. Ich kannte sie, und sie kannte mich. In- und auswendig.
    Fünfzehn Minuten später wird die Fähre langsamer und schwimmt dem Pier auf Staten Island entgegen. Ein Fährmann mit Weihnachtsmannmütze erscheint aus dem Ruderhaus. Alle an Land, alle an Land.
    Schreiber und Knipser steigen wieder in den Polara. Sie warten auf Sutton, der widerstrebend folgt.
    Knipser fährt langsam von der Fähre. Eine einbeinige Möwe steht im Weg. Knipser hupt. Der Vogel blickt finster drein und hopst davon.
    Wir wollen zum Victory Boulevard, sagt Schreiber. Mr Sutton, erinnern Sie sich noch an den Weg?
    Schweigen.
    Mr Sutton?
    Schreiber dreht sich um. Sutton putzt die Donutschachtel leer, sein Mund ist mit Bayerischer Creme und Gelee verschmiert. Herrgott, sagt Sutton, diese Donuts sind das Beste, was ich je gegessen habe. Noch nie im Leben war ich so eine Naschkatze.
    Block für Block fahren sie an identischen Häuschen vorbei, alle mit Gittern vor den Fenstern, einer amerikanischen Flagge und einem Weihnachtsmann oder Rentier auf dem Rasen. Knipser betrachtet Sutton im Rückspiegel. Willie, Sie sind den ganzen Weg gelaufen? Ohne Schlaf, ohne Essen? In Gefängniskluft? Irgendwie unmöglich.
    Sag ich doch die ganze Zeit.
    Sie fahren einen Hügel hoch und um eine Kurve. Sie sehen dichten Wald, dann die schwachen Umrisse von Dutzenden massiver Backsteinbauten. Im Näherkommen sehen sie, dass die meisten Gebäude mit Graffiti bemalt sind. Durch die Dächer und scheibenlosen Fenster wachsen Bäume.
    Puh, sagt Knipser. Eine Geisterstadt.
    Ein Maschendrahtzaun umgibt alles. Knipser hält am Zaun.
    Das war die berühmte Farm Colony, sagt Sutton. Bevor es Krankenversicherung und Sozialhilfe gab, schickte New York seine Kranken, Alten und Armen hierher. Zu Abertausenden.
    Eine Menschendeponie, sagt Knipser.
    Und zwar eine große. Fünfzig Gebäude. Hundert Morgen. Kein glücklicher Ort. Aber das perfekte Versteck für mich. Und irgendwie seltsam schön. Vierundzwanzig Stunden nach meiner Flucht aus Holmesburg bekam ich hier einen Job. In der Frauenabteilung. Als Pförtner und Hausmeister. Eine Zeitlang war ich glücklich. Richtig glücklich. Weil das eigentlich nicht ich war.

Zwanzig
    Die Oberschwester zeigt auf den Fußboden. Sie ist Ende fünfzig, lieblos und blutleer, eingezwängt in eine weiße elastische Schwesterntracht, die ihr nicht nur das Blut, sondern auch alles Menschliche abschneidet. Ich möchte mich darin spiegeln können, sagt sie.
    Willie, im grauen Overall, mit einem rot aufgestickten JOSEPH über dem Herzen, blinzelt. Mam?
    Der Fußboden, Joseph. Ihre Aufgabe ist es, den Fußboden jeden Abend so blank zu putzen, dass ich mich jeden Morgen darin spiegeln kann. Die Frauen in dieser Abteilung haben nichts. Weniger als nichts. Da ist das Mindeste, was wir ihnen bieten können, ein sauberer Fußboden.
    Willie nickt und bewegt seinen Mopp etwas schneller. Ja, Mam.
    Willie hält die Oberschwester für leicht verrückt. Sie redet weiter. Und weiter. Sie faselt ständig vom optimalen Glanz und Schimmer des Fußbodens, bis Willie sich vorstellt, den

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