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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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durch die Wände, seine Wimpern gefrieren, die Härchen in seiner Nase. Er erinnert sich an einen Artikel über Unterkühlung. Schlaf geht dem Tod voraus. Oder umgekehrt, Tod dem Schlaf? So oder so. Er steht auf und macht Hampelmänner. Er redet mit Gott, schlägt einen Handel vor, einen Pakt. Ich weiß, du bist auf meiner Seite, Gott. Du kannst mir nichts vormachen. Der Tunnel. Der Milchlaster. Natürlich bist du für Gefangene. Du warst ja selbst einer, hast deine letzte Nacht im Gefängnis verbracht. Ich weiß, du hältst zu mir, Gott, darum rette mich bitte noch einmal, hilf mir aus dieser Patsche, Gott, und dann ändere ich mich.
    Und wo wir schon dabei sind, Gott. Wie wär’s mit einer Zigarette?
    Er erinnert sich an Sexmaniacs Streichhölzer und schafft es, eins anzuzünden. In der Ecke der verlassenen Scheune entfacht er mit Heu und Abfallholz ein Feuer, das ihn rettet.
    Im Morgengrauen macht er sich wieder auf den Weg und sucht den Highway. Nach ein paar Minuten fährt ein Laster rechts ran.
    Mein Auto ist liegengeblieben, sagt Willie, klitschnass, mit zitternden Zähnen. Verdammte Chevys.
    Dem Trucker fällt nichts Ungewöhnliches an Willies Erscheinung oder Verhalten auf. Ihm fällt überhaupt nichts auf. Er transportiert Eichentische in die Bronx und giert nach Gesellschaft. Tische sind eine verdammt armselige Gesellschaft, sagt er.
    Aber wirklich versessen ist er auf Schlaf. Schon nach ein paar Kilometern sieht Willie, wie das Gesicht des Truckers in Richtung Lenkrad sinkt. Willie tippt ihn aufs Knie. Der Fahrer wacht erschrocken auf, schaut auf sein Knie, dann mit zusammengekniffenen Augen zu Willie, als wäre Willie pervers. Dann dämmert ihm, dass er sie beide fast umgebracht hat. Tut mir leid, sagt er, hab in letzter Zeit nicht viel geschlafen, viel Ärger zu Hause.
    In der Brusttasche seines Arbeitshemds tastet er nach Zigaretten. Er zieht ein zerknittertes Päckchen heraus, bietet Willie eine an. Noch bevor er hinsieht, weiß Willie Bescheid. Es sind Chesterfields. Er nimmt die Zigarette und steckt sie zwischen die Lippen. Trucker zündet sie mit einem silberfarbenen Feuerzeug an. Willie fand schon die kalte Milch köstlich, aber das ist nichts verglichen mit dieser Chesterfield. Der erste Zug schmeckt süß, wie der erste Bissen Zuckerwatte auf Coney Island. Der zweite Zug schmeckt würzig, pfeffrig, nahrhaft, wie die Steaks, die Eddie und Happy ihm spendierten, als ihn sein Glück verlassen hatte. Rauch füllt seine Lunge, sein Blut fließt schneller, seine Kraft und sein Lebenswille sind augenblicklich wiederhergestellt. Er nimmt noch einen Zug und noch einen, dann erzählt er dem Trucker Geschichten, fesselnde Geschichten, phantastische Geschichten, fette Lügengeschichten, die sie beide wach halten. Wenn sein Leben bisher nur auf diesen einen Augenblick hinausgelaufen ist, auf dieses flüchtige Hochgefühl, diese Verbindung mit einem Fremden, dann ist es nicht umsonst gewesen.
    Er sieht den verschneiten Wald vorbeifliegen, die Verkehrsschilder, und spricht wieder mit Gott, der ihm näher scheint als der Schaltknüppel. Lieber Gott, ich weiß nicht, was ich mein Leben lang von dir wollte. Verständnis? Begnadigung? Ein Zeichen? Aber durch diese Chesterfield weiß ich endlich, was
du
von
mir
willst. Du erklärst dich einverstanden mit dem von mir vorgeschlagenen Pakt. Ich höre dich. Und ich werde dir zeigen, dass ich dich höre. Ich werde mich ändern.
    Er raucht die Chesterfield bis zum letzten Rest, bis kaum noch was übrig ist und er sich die Fingerspitzen verbrennt. Selbst der Schmerz fühlt sich gut an.
    Der Trucker lässt ihn genau an der Abzweigung aussteigen, wo die Cops Eddie erschossen haben. Willie wehrt sich gegen den Gedanken, denkt an gar nichts, als er der George Washington Bridge zuwinkt und den ganzen weiten Weg nach Downtown geht. Er konzentriert sich auf seine Schritte im Schnee und auf die Tatsache, dass es ein schöner Wintermorgen ist, den er nicht in Block C verbringt. Er ist in New York, New York.
    Er ist am Times Square, verdammt.
    Er bleibt stehen und blickt auf. Hallo, Wrigley-Werbung.
    Fische in Neonfarben, rosa, grün und blau, schwimmen durch den Schneesturm. Über den Fischen steht in blinkend grüner Neonschrift: WRIGLEY SETTLES THE NERVES ; Wrigley beruhigt die Nerven. Und über den Neonbuchstaben heißt die Wrigley-Meerjungfrau Willie zu Hause willkommen.
    Er schlüpft in ein Automat-Restaurant, reicht dem Geldwechsler seinen letzten Dollar und bekommt dafür

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