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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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zwanzig Fünf-Cent-Stücke. Er kauft sich eine Fischfrikadelle und einen kochend heißen Kaffee, geht damit zu einem Tisch am Fenster. Er isst langsam und begutachtet die Leute, allerdings sind es nicht viele – es ist noch früh. Als er fertiggegessen hat, trinkt er den heißen Kaffee bis auf den letzten Tropfen aus. Er fährt mit dem Finger um die Innenseite der leeren Tasse und schleckt den Finger ab. Dann betrachtet er den Warmhaltetisch und stellt sich vor, wie er sich Rindersteaks, gekochte Kartoffeln mit Béchamelsauce, Rahmspinat, Mohnbrötchen, Apfeltörtchen, Kekse und Kürbiskuchen auf einen Teller häuft. Er hält die letzten zwanzig Cent in der Hand und schließt die Augen, labt sich an den Gerüchen. Nicht nur an den Essensgerüchen, auch an den New-York-Gerüchen. Zigarren, Pfefferminze, Rasierwasser, Plastik, Leder, Gabardine, Urin, Haarspray, Schweiß, Seide, Wolle, Körperpuder, Sperma, U-Bahn-Gestank und Bohnerwachs. Ach, New York. Du stinkst. Bitte, lass mich bleiben.
    Um Punkt neun tritt Willie in die Telefonzelle und wählt die Nummer der ersten Arbeitsagentur, die in den Gelben Seiten aufgeführt ist. Die Frau fragt nach seinem Namen.
    Joseph Lynch, Mam.
    Sie tippt ihn in ein Formular ein.
    Ich bin neu in der Stadt, Mam, und brauche eine Arbeit, irgendetwas, bis ich auf die Beine komme.
    Sie hat nicht viel.
    Irgendetwas, sagt er wieder.
    Das Einzige, was mir einfällt – nein, Moment, Sandy hat gestern was ausgefüllt. Hum-di-dum, mal sehen. Wo hab ich bloß die verflixte Karte hingesteckt?
    Willie umklammert den Hörer.
Irgendetwas
.
    Tada!, sagt sie. Hausmeister.
    Mam?
    Die Farm Colony draußen in Richmond. Das ist Staten Island. Zehn Dollar pro Woche, plus Kost und Logis, Joseph.
    Einverstanden.
    In der Brielle Road.
    Sie nennt ihm den Namen der Oberschwester, aber er merkt ihn sich nicht. Dann sagt sie, dass sie die Oberschwester anruft und sagt, Joseph sei unterwegs.
    Hausmeister, denkt er auf dem Weg zur Fähre. Hausmeister? Er denkt an den Wachmann bei Rosenthal and Sons. Wie sind die Helden gefallen. Nur waren die Helden nie Helden. Und die Gefallenen waren nie Gefallene. Mit einem seiner letzten drei Fünf-Cent-Stücke kauft er sich eine Fahrkarte für die Fähre. Auf dem Landungssteg ist ein Zeitungsstand, auf jeder Titelseite prangt sein Gesicht. Er versucht, die Artikel aus der Ferne zu lesen, aber seine Augen werden langsam schlecht. In vier Monaten wird er sechsundvierzig.
    Die Pfeife ertönt. Alle an Bord.
    Er treibt mit der Menge auf die Fähre, setzt sich auf eine Holzbank, dreht sein Gesicht zum Fenster und stellt sich schlafend. Die Hälfte der Fahrgäste lesen Zeitung und sehen sein Foto. Als das Schiff schließlich losfährt, springt Willie auf und rennt an Deck. Dort draußen ist niemand, es ist zu kalt. Er lehnt sich an der Holzreling in den Wind und betrachtet die kleiner werdende Stadt.
    Die Fähre wühlt dicken weißen Schaum auf. Er legt eine Hand auf seinen leeren Bauch und wünscht, er hätte eine Flasche Milch mitgenommen.
    Eine Seemöwe erscheint. Sie schwebt neben dem Schiff und muss ihre langen grauen Schwingen nur alle fünf Sekunden schlagen, um mit der Fähre Schritt zu halten. Willie würde alles dafür geben, diese Möwe zu sein. Er denkt an Reinkarnation und hofft, dass es sie gibt. Außerdem hofft er, dass dieser verirrte Gedanke nicht den katholischen Gott verärgert, der ihn so weit gebracht hat. Und ihn jetzt in der Hand hat.
     
    Als Manhattan hinter einer Dunstwand verschwindet, trübt sich auch Willies Gemüt. Er packt die Holzreling und stellt sich vor, über Bord zu gehen. Vielleicht ist es das einzig Sinnvolle – damit hätte all sein Weglaufen ein Ende. Er spürt den ersten Schock des weißen Schaums, dann das bitterkalte Wasser. Er schmeckt das Salzwasser, sieht die trübgrüne Dunkelheit, gefolgt von einer anderen Dunkelheit. Auf diese andere Dunkelheit zu warten – eine Minute? Fünf Minuten? –, das wäre das Schwierige an dem Ganzen.
    Die Fähre gelangt in tieferes Gewässer. Irgendwo hat er mal gelesen, dass es hier draußen dreißig Meter tief ist. Er weiß, wie sich dreißig Meter Dunkelheit anfühlen. Der Tunnel unter Eastern State. Und Meadowport Arch. Er spürt sich immer weiter nach unten schweben. Vielleicht wird sein Körper nie gefunden. Das wäre ein Sieg.
    Er steigt auf die erste Sprosse der Reling. Dann blickt er hoch. Die Freiheitsstatue. Wunderschön. Er betrachtet ihre Füße. Ihm ist noch nie aufgefallen, dass sie

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