Knapp am Herz vorbei
ringsum. Hinter jedem Fenster ist eine Geschichte. Wahrscheinlich wie seine. Er erfindet die Geschichten, erzählt sie sich, eine nach der anderen, Geschichten über müde, kranke, mittellose, verängstigte Menschen. Dann betrachtet er die Bank. Er kann den Blick nicht abwenden. Eine Stunde vergeht. Drei. Der Wachmann der Bank erscheint. Willie sieht, wie er die Tür aufsperrt. Er schleicht aus dem Schatten und späht durch das Vorderfenster der Bank, beobachtet, wie der Wachmann die Alarmanlage ausstellt, eine Kanne Kaffee macht. Willie geht wieder über die Straße, wartet, bis der erste Kassierer kommt, dann der stellvertretende Direktor, dann der Direktor. Kurz bevor die Bank öffnet, klopft ein Botenjunge von Western Union an die Tür. Der Wachmann öffnet, scherzt mit dem Jungen, bestätigt den Empfang eines Telegramms.
Und dann passiert es. Ein Gefühl überkommt Willie, ähnlich dem, als er in Sing Sing zum ersten Mal in den Südhof trat und Chapins prachtvolles Rosenmeer sah. Er rennt den ganzen Weg zu Marcus’ Wohnung. Während Dahlia schläft, sitzt Willie mit Marcus am Kartentisch und legt ihm seinen Plan dar.
Es ist so einfach, Marcus. Ich weiß nicht, warum ich nicht früher daran gedacht habe. Ich weiß nicht, warum noch kein anderer daran gedacht hat. Wir stehen vor der Bank, klar? Früh. Wenn der Wachmann kommt und die Alarmanlage abstellt, ist die Bank schutzlos. Ein leicht zu treffendes Ziel. Wir müssen nur reingehen. Und wie kommen wir rein? Durch einen Trick. So hat es noch keiner gemacht. Dillinger, Floyd, Barrow, all diese Jungs schießen in der Bank wild um sich und jagen allen eine Höllenangst ein. Oder sie brechen mitten in der Nacht ein und sprengen den Safe. Das ist riskant. Alles Mögliche kann dabei schiefgehen. Aber es muss gar nicht so schwer sein, Marcus. Es ist viel einfacher.
Und wie?
Eine Uniform.
Irgendeine Uniform
. Western Union. Post. Der Wachmann macht die Tür auf – Sesam, Abrakadabra. Wachmänner gehorchen einer Uniform blind, sie überprüfen nicht, und sobald der Wachmann die Tür öffnet, ist es vorbei.
Die Scheißbank gehört uns
. Ich schieb den Wachmann rückwärts rein und fessle ihn. Dann kommst du. Wenn die Angestellten nacheinander eintreffen, fesseln wir sie. Dann kommt der Direktor. Wir lassen ihn den Safe öffnen. Dann fesseln wir ihn und marschieren raus. Kein Schweißbrenner, kein Nitro. Keine Gewalt, keine Beweise. Sauber. Souverän.
Marcus streicht sich über die gleichschenkligen Seiten seines dreieckigen Gesichts. Seine Wasserwanzenaugen tanzen. Schöne Sache, Willie.
Sag, dass du dabei bist.
Oh, ich bin dabei, Willie. Ich bin dabei.
Nur ein Problem gibt es, da sind sie sich einig. Revolver und Uniformen sind nicht billig. Sie brauchen Startkapital für ihr neues Unternehmen. Ganz zu schweigen von Miete, Essen, Zigaretten. Außerdem wäre eine Generalprobe nicht schlecht. Abgesehen von Mord wird 1930 kein Verbrechen härter bestraft als Bankraub. Dafür haben die Bankiers und ihre Lobbyisten gesorgt. Wenn man eine Bank ausraubt, sollte alles reibungslos laufen.
Wenn Eddie hier wäre, sagt Willie, würde er ein Juweliergeschäft empfehlen. Ich glaube, ich kenne das richtige. Rosenthal and Sons. Liegt an einer der geschäftigsten Ecken in Midtown.
Fordern wir damit den Ärger nicht geradezu raus?
Ich wette einen Fünfer, dass sie wegen des regen Betriebs in der Ecke unvorsichtig sind. Sie glauben, sie haben nichts zu befürchten.
Er wäre auch bereit zu wetten, dass es keine Söhne gibt.
Warum, glauben Sie, war die Begegnung mit Marcus Bassett so verhängnisvoll, Mr Sutton?
Wir waren beide arbeitslos, verzweifelt – und dumm. Die Zündschnur traf das Streichholz.
Hatten Sie Bedenken, noch mal den gleichen Weg zu gehen? Wieder in ein kriminelles Leben zurückzukehren?
Bedenken? Ja, Kleiner. Ich hatte Bedenken.
Ich meine, dachten Sie an Ethik? Moral? Kam Ihnen der Gedanke, dass etwas zu nehmen, das Ihnen nicht gehört, möglicherweise – unmoralisch ist?
Die Menschen haben mir viel genommen.
Damit will ich nicht – ich versuche nur ein Gespür für Ihr Denken zu bekommen, Mr Sutton. Haben Sie jemals innegehalten und gedacht, dass es falsch war?
Ich dachte nicht, dass es falsch war. Ich wusste, dass es falsch war. Aber es war auch falsch, dass ich hungrig war. Es war falsch, dass ich kurz davorstand, auf der Straße zu landen. Es war falsch, dass das halbe Land mit Willie in einem Boot saß, dass das halbe Scheißland
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