Knapp am Herz vorbei

Tagen vor einem Raub kauft Willie einen Spiralblock und setzt sich stundenlang in das Café, beobachtet, macht sich Notizen. Er schreibt auf, wann die Bankangestellten kommen, welche klug aussehen und welche so, als könnten sie Ärger machen. Er verwendet Zeichenlineale und Buntstifte, um detaillierte Bilder, Skizzen und Karten anzufertigen. Manchmal wartet er, bis die Bank schließt, und folgt den Angestellten in ihre bevorzugten Lokale oder Flüsterkneipen. Er belauscht ihre Gespräche, erfährt ihre Namen, die Namen ihrer Ehefrauen. Während eines Überfalls spricht er die Angestellten namentlich an oder lässt nebenbei den einer Ehefrau fallen. Tun Sie, was ich sage, Mr Myers, oder Sie sehen Harriet nie wieder.
    Das ist so schockierend, so unerwartet, dass sie wie gelähmt sind.
     
    Mr Sutton, wie viele Raubüberfälle haben Sie 1931 verübt?
    Ach, Kleiner, keine Ahnung.
    Schätzungsweise.
    Schätzungsweise? Siebenunddreißig.
    Schreiber blickt von seinem Notizbuch auf. Siebenunddreißig? Banken?
    Ich geb nicht gern an. Aber doch, ja.
    Knipser drückt eine halbgerauchte Newport aus. Es fällt mir schwer zu glauben, Willie, dass Sie siebenunddreißig Banken ausrauben und keinen Rachefeldzug gegen Banken führen.
    Ehrlich, Kleiner, ich enttäusche dich nicht gern, aber für mich ging es eher um Bess.
    Wie kann ein Mann siebenunddreißig Banken ausrauben, um eine einzige Frau zu gewinnen?
    Du solltest lieber fragen: Sind für bestimmte Frauen siebenunddreißig Banken genug?
     
    Willie und Marcus benutzen das Automat am Times Square als ihr Büro. Alle paar Morgen treffen sie sich, der Ablauf ist immer derselbe. Erst arbeiten sie den letzten Raub auf. Dann gehen sie zu Willies Notizen für den nächsten Job über. Anschließend besprechen sie, was zu tun ist, wenn sie erwischt werden. Als Wiederholungstäter müssen sie mit fünfundzwanzig Jahren rechnen.
    Eines Morgens zündet Willie sich eine Chesterfield an und betrachtet die Bedienung. Sie sieht aus wie Mutter.
    Das würde ich nicht aushalten, Marcus.
    Ich auch nicht, Willie.
    Dann ist alles ganz einfach. Wenn sie uns erwischen, sagen wir nichts. Wenn wir den Cops nichts sagen, haben sie keinen Fall.
    Marcus hält eine Hand hoch. Auf mein Kind.
    Du hast doch gar kein Kind.
    Dahlia ist schwanger.
    Oh.
    Marcus strahlt. Ja. Ich raube jetzt für drei.
    Ein paar Tage später, in ihrer Stammnische im Automat, schiebt Marcus ein Glasfläschchen über den Tisch. Es enthält drei kleine lila rosa Pillen. Willie lässt es vom Tisch in seinen Schoß verschwinden. Verfrühtes Geburtstagsgeschenk, sagt Marcus.
    Was ist das?
    Schneller Tod.
    Willie kneift die Augen zusammen. Hä?
    Wir haben darüber gesprochen, was wir tun, wenn wir geschnappt werden. Das ist Strychnin.
    Willie schließt die Faust um das Fläschchen. Ihm fallen einige Augenblicke in seinem Leben ein, in denen er diese Helferchen gut hätte brauchen können.
    Aber erst, wenn du keine andere Wahl mehr hast, sagt Marcus. Es ist kein schöner Tod.
    Inwiefern nicht schön?
    Hast du schon mal ein Tier gesehen, dem man Strychnin verabreicht hat?
    Nein.
    Sie werden steif. Der Hals wölbt sich. Aus dem Maul quillt Schaum.
    Woher weißt du das alles, Marcus?
    Ich hab es an ein paar Katzen in meinem Viertel ausprobiert.
     
    Mr Sutton, aus meinen Informationen geht hervor, dass Sie mit Marcus anfingen, sich zu verkleiden. Und zu schminken.
    Ja.
    Und Sie gingen offenbar nach einem bestimmten Muster vor. Um die Bankangestellten zu unterhalten, haben sie Witze gemacht, Gedichte rezitiert. Ein Angestellter erzählte dem
FBI , dass Ihre Überfälle einem Kinobesuch glichen. Nur dass der Platzanweiser die ganze Zeit eine Pistole auf ihn gerichtet hat.
    Wenn wir die Angestellten bei Laune hielten, waren sie leichter zu kontrollieren. Unglückliche Menschen sind viel schwerer zu kontrollieren. Frag jeden Politiker.
    Aber Sie haben immer eine Pistole benutzt.
    Klar.
    Geladen?
    Was nützt eine ungeladene?
     
    Willie mietet eine Fünf-Zimmer-Wohnung am Riverside Drive. Ohne Möbel. Er will keine. Nach dem Gefängnis und der Absteige will er nur noch Platz. Und Ruhe. Ihm gefällt die Wohnung gut, aber wie ein Zuhause empfindet er sie nicht, bis er erfährt, dass John D. Rockefeller jr. im selben Gebäude lebt.
    Als das Frühjahr zum Sommer wird, fasst Willie einen großen Plan. Er wird genug Geld anschaffen, dann Bess suchen und sie überreden, mit ihm durchzubrennen. Nach Irland vielleicht. Oder Schottland. Er verbringt