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Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

Titel: Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sendhil Mullainathan
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    Steven Wright 1
    Der Koyambedu-Markt in Chennai ist ein Riesenspektakel. Er erstreckt sich über gut 15 Hektar und ist mit 2   500 Buden und Läden gepflastert, die alles verkaufen: von Mangos bis zu Ringelblumen. Zehntausende Käufer flanieren durch die bunten Auslagen wie bei einer permanenten Rush Hour in der U-Bahn. Es gibt vieles, was das Auge gefangen nimmt. Das vielleicht Interessanteste ist aber am leichtesten zu übersehen.
    In den Stunden vor der Morgendämmerung kommen die Straßenhändlerinnen und -händler auf dem Markt an. Jeder, der schon einmal in den ärmeren Städten der Welt war, hat Straßenhändler gesehen und vielleicht bei ihnen gekauft. In Chennai platzieren sie sich am Straßenrand, manchmal mit einem kleinen Bretterverschlag, aber oft nur mit einem Tuch, auf dem Gemüse, Früchte und frische Blumen liegen. Sie haben ein ganz einfaches Geschäftsmodell. Eine typische Straßenhändlerin kauft am Morgen für 1   000 Rupien (gut 16 Dollar) Ware. 2 Sie verkauft im Laufe des Tages Ware für etwa 1   100 Rupien, was ihr einen Gewinn von 100 Rupien einbringt. 3 In ihr Geschäft fließen zwei Arten von Kapital ein: die eigene Arbeitszeit und die 1   000 Rupien, die jeden Tag nötig sind, um Ware zu kaufen. Einige Straßenhändlerinnen haben die 1   000 Rupien selbst, aber die meisten (nach unseren Daten 65 Prozent) borgen sich dieses Geld. Der Kredit ist nicht billig: Die Straßenhändlerin zahlt im Schnitt 5 Prozent pro Tag , was einem Jahreszins von 1   825 Prozent entspricht! Am Ende des Tages geht also die Hälfte ihres Gewinns von 100 Rupien an den Geldverleiher. Der Kredit und die Zinsen, die die Straßenhändlerin den Geldverleihern zahlen, sind vielleicht die faszinierendste Story von Koyambedu.
    Man könnte meinen, dass nur ein Wirtschaftswissenschaftler im Zusammenhang mit Zinsen das Wort »faszinierend« verwenden kann, aber lassen Sie es uns überdenken. Fast jede Straßenhändlerin hat eine kleine Reserve, etwas, was sie zurücklegen konnte. Sie kann damit eine Schale Tee kaufen oder eine Dosa oder eine Süßigkeit für das Kind oder den Enkel. Nehmen wir nun an, statt dafür 5 Rupien am Tag auszugeben, würde die Straßenhändlerin für 5 Rupien Ware kaufen, 5 Rupien, die sie sich weniger borgen müsste. Nach 200 Tagen könnte sich die Straßenhändlerin von ihren immer neuen Schulden von 1   000 Rupien befreien. Tatsächlich würde es wegen der Zinseszinsen und des immer geringer werdenden Kreditbedarfs sogar nur 30 Tage dauern, besonders, wenn der Zinssatz hoch ist. 5 Prozent pro Tag häufen sich schnell an.
    Die Größenordnung ist beeindruckend. Indem sie ein wenig zurücklegt, kann die Straßenhändlerin in 30 Tagen schuldenfrei sein. Und wenn sie schuldenfrei ist, hat sie bis ans Ende ihres Arbeitslebens das doppelte Einkommen. Ein Sozialprogramm für die Armen, welches das Einkommen verdoppelt, würde Staunen erregen, es wäre zu schön, um wahr zu sein. Und obwohl jede Straßenhändlerin Zugang zu diesem »Programm« hat, versäumen es alle, es zu nutzen. Und das geht schon immer so. In unserem Beispiel hatte die typische Straßenhändlerin schon seit 9,6 Jahren Geld geborgt.
    Die Straßenhändlerin steckt in einer Falle. Eine besonders interessante Frage ist aber, wie sie hineingeraten ist. Wir sind es gewohnt, Knappheit als einen Teil der Realität zu sehen, die über uns verhängt wird. In einigen Fällen ist das auch wahr. Der Unterschied zwischen jemandem, der in einem Entwicklungsland lebt und 1 Dollar am Tag verdient, und jemandem der in der hoch entwickelten Welt lebt und 100 Dollar am Tag verdient, hat wenig mit seinem Verhalten zu tun, aber sehr viel mit allem, was durch den Ort der Geburt bestimmt wird. Manche Formen von Knappheit − wie die bei unserer Straßenhändlerin − sind aber teilweise das Ergebnis des menschlichen Verhaltens. Die Straßenhändlerin könnte weit weniger arm sein, wenn sie sich anders verhalten würde.
    Die Straßenhändlerin liefert uns das Beispiel einer Knappheitsfalle , einer Situation, in der das Verhalten einer Person zu ihrer Knappheitbeiträgt. Menschen in Knappheitsfallen wie unsere Straßenhändlerin können Komponenten der Knappheit geerbt haben, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Wäre die Straßenhändlerin in New York geboren worden, wäre sie deutlich reicher. Wir sind aber ganz besonders an dem Teil der Knappheit interessiert, der aus dem Verhalten folgt. Und noch mehr sind wir daran interessiert,

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