Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
wir Knappheitsfallen: wie sie arbeiten und wie wir in sie geraten. Und warum wir wie die Straßenhändlerin, die nicht jeden Tag 5 Rupien zurücklegt, nicht das tun, was uns aus der Knappheitsfalle befreien könnte.
zwang zum jonglieren
Um zu erklären, warum wir in der Falle sitzen, müssen wir uns zunächst mit einem übergreifenden Merkmal von Knappheitsfallen auseinandersetzen. Wir wurden mit ihm in unserer eigenen Arbeit zum ersten Mal konfrontiert, als wir zusammen mit dem Ökonomen Michael Faye ein Projekt durchführten, bei dem es um die Beleihung von Schmuck in Dörfern im indischen Bundesstaat Tamil Nadu ging. Diese Kredite sind das Gegenstück zur Pfandleihe. Wir arbeiteten mit einer Bank in einem armen Dorf zusammen, die Kredite auf Schmuck zu einem Zinssatz von 13 Prozent jährlich vergab. Wir waren überrascht, als wir herausfanden, dass die Kunden gewöhnlich lieber mit dem lokalen Geldverleiher zusammenarbeiteten, der weit mehr Zinsen verlangte, nämlich über 70 Prozent. 5 Die vorherrschende Meinung in diesem Dorf war, dass Kredite auf Schmuck in Notfällen aufgenommen wurden, sie waren also die »letzte Rettung«. Und der Geldverleiher war immer greifbar. Er hatte flexible Arbeitszeiten, man konnte auch am Wochenende bei ihm anklopfen und einen Kredit bekommen, während die Bank nur unter der Woche und am Samstagvormittag auf hatte. Aber in einem Notfall konnte man natürlich nicht warten. Auf eine so schnelle Lösung ist man aus, wenn man gerade in den Tunnel einfährt. Sie ergibt Sinn, zumindest zunächst.
Dann sahen wir uns die Daten an, um herauszufinden, was als Notfall zählte. An der dritten Stelle der Liste stand etwas anscheinend Vernünftiges: Ausgaben für Ärzte und Medizin. Nummer zwei und eins waren mysteriöser: Schulgebühren und der Kauf von Saatgut. Die Leute wussten vermutlich schon lange im Voraus, wann die Schulgebühren fällig waren und wann sie Geld für das Pflanzen und Säen brauchten. Wie konnte daraus ein Notfall werden? Als wir etwas tiefer bohrten, waren selbst manche medizinische Ausgaben keine wirklichen Notfälle: Das Geld wurde für lange geplante Operationen gebraucht wie etwa am Grauen Star oder für eine Geburt. Warum reagierten die Menschen auf diese Ereignisse erst im letzten Moment? Warum gingen sie mit Routineereignissen, die nach Plan verliefen, wie mit einer plötzlichen Katastrophe um?
Sicher muss man schon einmal zuvor eine solche Katastrophe erlebt haben. Wenn Sie darauf fokussiert sind, diese Woche über die Runden zu kommen, kümmern Sie sich nicht um die Details der nächsten Woche. Und wenn dann die nächste Woche kommt, sind einige Dinge für Sie Überraschungen, die Sie aber hätten berücksichtigen können. Sie haben beispielsweise die Billigtickets Ihrer Fluggesellschaft verpasst, von denen Sie schon lange wussten, dass Sie sie brauchen. Oder Sie müssen Ihrer Frau peinlicherweise gestehen, dass es für die Show, für deren Besuch Sie sich schon vor langer Zeit begeistert entschlossen hatten, keine Karten mehr gibt. Bei der Arbeit haben Sie verzweifelt ein Projekt zu Ende geführt, bemerken aber bestürzt, dass Sie nun nur noch zwei Tage haben, um ein anderes zu bearbeiten. Es ist noch nicht lange her, da war diese Deadline noch Wochen entfernt. Was Sie schon immer »wussten«, ist nun eine böse Überraschung.
Betreibt man dies alles über längere Zeit, führt es zu einem Verhalten, das wir Jonglieren nennen: dem ständigen Wechsel von einer dringenden Aufgabe zur nächsten. Das Jonglieren ist die logische Konsequenz des Tunnelblicks. Mit dem Jonglieren »lösen« wir unsere Probleme im Hier und Jetzt. Wir tun jetzt, was wir können, aber erzeugen damit Probleme in der Zukunft. Die Rechnung heute zu bezahlen erfordert einen Kredit, der in der Zukunft zu einer weiteren (etwas größeren) Rechnung wird. Die billige medizinische Behandlung wirkt eine Zeit lang, aber später brauchen wir eine teure Therapie. Ständig sind mehrere Bälle in der Luft, aber im Tunnelfokussieren wir uns nur auf den einen Ball, der gleich herunterfällt. Manchmal lösen wir auch ein Problem wirklich, aber viel öfter fangen wir den Ball nur noch gerade rechtzeitig auf − um ihn gleich wieder hochzuwerfen.
Das Jonglieren hat zur Folge, dass vorhersehbare Ereignisse einen Schock auslösen. Wenn man jongliert, schaut man mit dem Tunnelblick auf die Bälle, die am Boden erwartet werden, aber man übersieht diejenigen, die noch hoch in der Luft sind. Fallen diese
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