Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)

vorbereiten, Sie können sich ein herausforderndes Gespräch ausmalen und sich selbst an die Details erinnern, damit Sie nicht unbeleckt zu einem Meeting erscheinen. An einem Tag voller Arbeit ist es dagegen ein Sprung ins kalte Wasser. Sie versuchen gar nicht erst, Abstand zu gewinnen und sich den Tagesablauf gründlich zu überlegen. Sie sind sich nicht ganz sicher, wer zu dem Meeting kommt und um was es geht. Und es ist nicht nur, weil Ihnen die Zeit wegläuft. Sie mögen ein wenig Zeit für Ihre Arbeit haben, aber Ihr Kopf ist so voll mit alldem, was gemacht werden muss, dass Ihr Blick getrübt wird. Sie blicken nicht über die ersten paar Besprechungen hinaus auf das, was später folgen wird.
    Zurückblicken, Innehalten, sich vom Augenblick Lösen und Vorausdenken erfordern eine weite Perspektive und einige kognitive Ressourcen. Wenn Sie an die Rechnungen denken, die nächsten Monat fällig sind, an die anderen Geldquellen, die Sie vorauskalkulieren können, oder an neue Ansprüche auf Ihre Zeit, die kommen könnten, so erfordert das alles freie kognitive Kapazitäten. Ist Ihr Denken aber ganz auf die gegenwärtige Knappheit fixiert, fällt der Blick auf bevorstehende Risiken den Einschränkungen durch den Tunnelblick zum Opfer.
    Könnte man das auch in Family Feud künstlich erzeugen? Wieder wurden die Teilnehmer gebeten, einige Runden zu spielen. Wieder waren einige reich und einige arm (mit vielen und wenigen Sekunden pro Runde). Aber nun gaben wir den Spielern die Chance, ein wenig vorauszuplanen und sich für die folgenden Runden vorzubereiten. Der Hälfte der Spieler wurde eine Vorschau auf die Frage der nächsten Runde gegeben. Sie konnten über diese Frage schon parallel zur aktuellen Frage nachdenken. Sie konnten sich mit ihr auseinandersetzen und entscheiden, ob sie Zeit sparen oder borgen sollten, je nachdem, wie viel Zeit sie der nächsten Frage widmen müssten.
    Die Vorschauen waren hilfreich. Genauer gesagt: Sie halfen den Reichen, die vorausschauten, die Information nutzten und mehr Punkte sammelten. Den Armen ging es andererseits mit den Vorschauen nicht besser als ohne. Sie waren so auf die laufende Runde fixiert, dass ihnen die geistigen Ressourcen fehlten, die nötig waren, um vorauszuschauen. Die Knappheit kettete sie fest an die Gegenwart, so konnten sie einen Blick auf die Zukunft nicht gewinnbringend nutzen.
    Ein häufiges Thema sind die vielen Formen von Einschränkung durch den Tunnelblick. Knappheit führt zu Verhaltensweisen, die uns kurzsichtig machen. Wenn wir viel zu tun haben, ignorieren wir die (zukünftigen) Arztkosten, die uns das ungesunde Essen außer Haus kosten könnte. Wenn wir gerade klamm sind, denken wir nicht über die Auswirkungen der Kredite nach, die (in der Zukunft) zurückgezahlt werden müssen. Wenn wir gerade auf eine Deadline zuarbeiten, berücksichtigen wir nicht den (zukünftigen) Gewinn, den ein wohlgeordnetes Büro bringt. Es gibt natürlich Ausnahmen: Dinge, die unser Denken bestimmen, gleichgültig, wo wir sind. Sie vergessen heute vielleicht ein Meeting, weil Sie heftig über Ihre Hochzeit in einem Jahr nachdenken. Das ist Teil der Schönheit des menschlichen Geistes. Aber im Großen und Ganzen drücken die Probleme der Knappheit uns heute. Morgen sind wir vielleicht auch arm (an Zeit oder Geld), aber das ist ein anderes Problem, das wir der Zukunft überlassen. Die Knappheit hat uns jetzt im Griff und fordert jetzt ihre Tunnelsteuer und lässt uns jetzt kurzsichtig handeln.
    Bemerkenswert ist aber, dass die Kurzsichtigkeit kein persönlicher Mangel ist und der Tunnelblick kein persönlicher Charakterzug. Es wäre letzten Endes töricht, Sandra kurzsichtig zu nennen. Sie kam aus einem Head-Start-Programm, wurde zur Angestellten des Jahres der University of North Carolina gewählt und gehörte zum Verwaltungsrat von Head Start. Auch die Überbeschäftigten, die wir kennen, würden wir nicht als kurzsichtig beschreiben. Und die Studenten in unseren Laboruntersuchungen sind wahrscheinlich nicht kurzsichtig nach Princeton gekommen. Viele der überbeschäftigten Leute, die sich Zeit borgen, haben Jahre in anspruchsvolle Karrieren gesteckt und sorgfältig geplant, wie sie nach vorn kommen können. In der Tat sind diese Leute, was ihre Charakterzüge betrifft, keineswegs kurzsichtig. Es ist der Kontext von Knappheit, der sie so handeln lässt.
    Ein Tunnel begrenzt den Blick von jedem.

kapitel 6
die knappheitsfalle

    Wenn Sie die Zeit haben, ist alles zu Fuß