Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
Bälle »plötzlich« herunter, sind sie für den Jongleur im Tunnel neu und damit, wenn man so will, ein Schock. Ein neutraler Beobachter sieht den Ball schon einige Zeit fallen. Als Außenstehende sehen wir, wie die Zahlung der Schulgebühren langsam näher kommt. Für den armen Jongleur werden die finanziellen Forderungen aber erst real, wenn sie schon fällig sind.
Diese Art, mit Knappheit umzugehen, macht das Schuldenkonto chaotisch. Weil wir immer gerade noch eine Zwischenlösung für das dringendste Problem finden, entsteht aus den kurzfristigen finanziellen Klemmen ein komplexes Netz von Verpflichtungen. Das Ergebnis ist ein verwirrender Flickenteppich von Einnahmen und Ausgaben. Für den Überbeschäftigten heißt das ein vollgepfropfter und verschachtelter Terminplan der Art, wie wir ihn im ersten Kapitel geschildert haben: mit beinahe zusammenbrechenden Bergen von »To-dos« und doppelt belegten Terminen. Für die Armen bedeutet es ein kompliziertes finanzielles Leben. Die tiefgehenden Forschungsarbeiten in dem Buch Portfolios of the Poor zeigen, dass die Armen im Schnitt ungefähr zehn finanzielle Instrumente nutzen. 6 In Bangladesch wurde beispielsweise ein solches Instrument, ein kurzfristiger zinsfreier Kredit, in einem Jahr von 42 Haushalten mehr als 300 Mal eingesetzt. Die Armen schuldeten zahllosen anderen Geld oder bekamen welches von anderen. Dieser Flickenteppich war das Ergebnis von Monaten und sogar Jahren des Tunnelblicks auf die momentan drückenden Probleme.
Entscheidungen über einen Kauf oder eine neue Investition müssen nun durch dieses immer komplexer werdende Netz navigiert werden. Das Erbe früherer Entscheidungen macht jede neue zu einem noch größeren Problem. Durch Jonglieren, also durch unsereigenes Verhalten, machen wir das Problem immer komplexer. Für die chaotische Gewinn-und-Verlust-Rechnung der Knappheitsfalle eine Lösung zu finden wird zur immer größeren Herausforderung.
Jonglieren heißt, nicht fristgerecht zu arbeiten. In vielen Fällen machen die Armen mehrere Jobs und sind wirklich sehr beschäftigt. Aber manchmal haben sie auch reichlich Zeit − und jonglieren trotzdem. In der Landwirtschaft wird vor dem Beginn der neuen Erntezeit am meisten jongliert. Das ist die Zeit, in der das Einkommen aus der vorherigen Ernte aufgebraucht ist. In dieser Zeit haben nach unseren Untersuchungen die Menschen weniger fluide Intelligenz, und ihre exekutive Kontrolle ist vermindert. Die Bauern haben dann eigentlich nicht viel zu tun und warten nur darauf, dass die Ernte reif wird. Die Daten über ihren Zeitverbrauch besagen, dass sie nur wenige Stunden am Tag arbeiten. 7 Und trotzdem wird eine Menge jongliert. Jonglieren beruht nicht auf zeitlicher Hetze, es beruht darauf, dass man allzu viel im Kopf hat. Vieles unserer Bandbreite ist auf die Bälle in der Luft gerichtet, die drohen herabzufallen.
Diese beiden Merkmale − einen Schritt zurück sein und jonglieren − definieren die Knappheitsfalle. Das Leben in der Knappheitsfalle bedeutet, weniger Zeit zu haben, als man eigentlich haben könnte. Es dreht sich alles um das Aufholen, das Kümmern um jeden Ball, bevor er landet, und um den chaotischen Flickenteppich, der das Ergebnis ist. Vieles von all dem ist das Resultat eines Verhaltens unter der Regie von Knappheit. Damit stellt sich aber eine Frage: Warum? Wenn es doch einige Wege gibt, eine feststehende Ressource zu managen, warum bleiben wir dann auf einem Weg stecken, der fürchterlich ineffizient ist? Warum entkommen wir der Falle nicht?
aus der falle entkommen
Wir haben schon einen wesentlichen Grund kennengelernt, warum wir im Reich der Knappheit stecken bleiben: Der Tunnelblick führt dazu, dass wir Schulden machen. Und wenn die Zinsen hoch sind,wie beispielsweise bei der indischen Straßenhändlerin, erzeugt dieser erste Anlauf noch mehr Knappheit. Das ist nicht nur die Geschichte der Straßenhändlerinnen, es ist auch Sandras Geschichte mit ihren Kleinkrediten aus Kapitel 5. Obwohl dieser Mechanismus schon wirkungsvoll genug ist, macht es die Psychologie der Knappheit noch aus anderen Gründen schwer, der Falle zu entkommen.
Will man aus der Knappheitsfalle entkommen, muss man als Erstes einen Plan entwerfen. Ein von Knappheit bestimmtes Denken kann das aber nicht so leicht leisten. Einen Plan zu machen ist zwar wichtig, aber nicht dringend − und damit genau das, was wir im Tunnel vernachlässigen. Planung erfordert, Abstand zu gewinnen, aber das Jonglieren
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