Knappheit: Was es mit uns macht, wenn wir zu wenig haben (German Edition)
hält uns in der aktuellen Situation gefangen. Der starre Blick auf den Ball, der gerade auf den Boden aufschlägt, macht es schwer, das Gesamtbild zu sehen. Man würde gern damit aufhören, immer nur aufholen zu wollen, aber man hat viel zu viel zu tun, um herauszufinden, wie das gehen könnte. Gerade jetzt muss die Miete bezahlt werden. Gerade jetzt ist die Deadline des Projekts. Langfristige Planungen liegen ganz klar außerhalb des Tunnels.
Und natürlich ist da noch das vielleicht Wichtigste: Zukunftsplanungen erfordern eine große Bandbreite, die aber gerade durch die Knappheit schwer eingeschränkt wird. Die Straßenhändlerin von Koyambedu muss den ganzen Tag Dutzende von Entscheidungen treffen. Wie viel Gemüse und Früchte soll sie kaufen und in welcher Qualität? Was von den Waren muss verkauft werden und was hält bis zum nächsten Tag? Warum geht heute nichts voran, und wird das so bleiben? Jeder Geschäftsmann macht sich solche Gedanken. Der wohlhabende Geschäftsmann, der eine gelegentliche Flaute locker wegstecken kann, trifft seine Entscheidungen und macht weiter. Die indische Straßenhändlerin begleiten diese Gedanken jedoch ständig. Sie drücken auf ihre Bandbreite, weswegen ihre Gedanken immer wieder zurückgehen, selbst wenn sie meint, gerade eine Entscheidung getroffen zu haben. Soll sie wirklich Waren für das Fest nächste Woche kaufen? Ist das Risiko nicht zu groß? Gedanken wie diese schwirren durch ihren Kopf. Sie erzeugen, wie wir gesehen haben, eine ganz reale Schmälerung der Bandbreite. Unter diesenUmständen ist es schwer, sich auf einen Plan zu konzentrieren, der aus der Knappheitsfalle führen soll.
Um alles noch etwas schlimmer zu machen, ist der dringend nötige aktuelle Plan viel komplizierter als der einfache, den wir skizziert haben. Ist es die richtige Strategie, jeden Tag 5 Rupien zurückzulegen? Sollte man nicht an manchen Tagen mehr zurücklegen? Was ist mit Tagen, an denen die Straßenhändlerin die gesamten Einnahmen braucht? Wie immer gilt das nicht nur für unsere indische Straßenhändlerin. In der Einleitung haben wir einen einfachen »Plan« für Sendhil und Shawn beschrieben, damit sie aus ihrer Zwickmühle entkommen. Er lautete: Nein sagen zu allen neuen Verpflichtungen oder Käufen. Ein realer Plan ist sehr viel schwieriger zu formulieren. Soll Shawn nicht doch den einen oder anderen Einkauf machen? Was ist mit Ausgaben, die auf lange Zeit gerechnet Geld sparen, wie beispielsweise ein Check-up beim Zahnarzt oder neue Autoreifen? Und welche Schulden müssen zuerst abbezahlt werden? Die zeitlich dringendsten? Die ältesten? Die größten? Das Jonglieren und die Knappheitsfalle haben zu einem chaotischen Netz von Verpflichtungen geführt. Das Netz zu entwirren und den besten Weg aus ihm zu finden ist keine geringe Herausforderung.
Ist der Plan ausgearbeitet, kann sich schließlich seine Verwirklichung als schwierig erweisen. Wie wir gesehen haben, werden oft die besten Vorsätze nicht in die Tat umgesetzt. In dem Augenblick, in dem man vor einem besonders attraktiven Projekt oder einem Schnäppchen steht, kann man oft nicht widerstehen und sagt Ja. Das strikte Verfolgen des Plans erfordert Bandbreite und kognitive Kontrolle − und die Knappheit hat dafür gesorgt, dass wir über beides nur eingeschränkt verfügen.
Jonglieren macht das Entkommen aus der Knappheitsfalle noch schwieriger. Sie haben endlich Ihren Plan gemacht, und nun passiert etwas Unerwartetes. Es kommt ein Strafzettel, weil Ihr TÜV abgelaufen ist. Sie haben den TÜV aufgeschoben, es ist einer der Bälle, die Sie wieder in die Luft geworfen haben. Jetzt ist er gelandet, und Sie haben neue Verpflichtungen und stecken wieder in der Knappheitsfalle.
All das wird durch das Fehlen von Reserven noch komplizierter.Angenommen, die Straßenhändlerin verzichtet wohlüberlegt tagein, tagaus auf fast alle Ausgaben. Sie ist aufmerksam und kontrolliert und spart Geld an. Dann kommt ein Tag, und sie kommt doch von ihrem Weg ab: Sie ist unaufmerksam, kalkuliert nicht richtig, und etwas sieht besonders erstrebenswert aus. Kurz: Sie macht einen Impulskauf. Schließlich ist das Geld dafür da. All die Wochen der geistigen Anstrengung und der körperlichen Zurückhaltung sind verloren. Das Entkommen aus der Knappheitsfalle erfordert nicht nur gelegentlich Wachsamkeit, es fordert konstante und andauernde Wachsamkeit. Man muss fast allen Verführungen fast immer widerstehen.
Bildet sich die nötige Willensstärke
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