Knast oder Kühlfach: Roman (German Edition)
anhand von DNA …«
»Ich will sie sehen.«
Jenny holte noch einmal Luft, aber Weiz stand bereits auf.
»Worauf warten Sie?«
Jenny hatte dem Vorstandsvorsitzenden einer Pharmafirma nichts entgegenzusetzen. Keine natürliche Autorität, keine dienstliche Autorität und auch keine sonst wie wirksame Waffe. Vermutlich konzentrierte sie bereits ihre ganze Kraft darauf, nicht loszuflennen. So ließ sie sich also von Weiz aus dem Büro und in den Fahrstuhl treiben und murmelte nur zweimal leise:
»Herr Weiz, diese Vorgehensweise ist …«
Was auch immer diese Vorgehensweise war, interessierte Weiz nicht die Bohne und Jenny ja offenbar auch nicht, denn sie leistete keinen aktiven Widerstand mehr. Im Gegenteil. Jenny fuhr voraus und Weiz folgte ihr zum rechtsmedizinischen Institut. Katrin hatte Dienst und war von Jenny telefonisch vorgewarnt worden, daher erwartete sie die beiden bereits an der Pförtnerloge.
»Herr Weiz, guten Tag. Hier entlang, bitte.«
Katrin benahm sich professionell, aber nicht gefühlskalt und führte Weiz zu dem Raum, in dem Angehörige die Verstorbenen noch einmal sehen können. Jenny dackelte mit unglücklichem Gesichtsausdruck hinterher.
Vor der Tür wandte sich Katrin erneut an Weiz. »Siekönnen es sich immer noch überlegen, Herr Weiz. Im Normalfall identifizieren wir anhand von DNA-Proben. Das ist genauso sicher und für die Angehörigen einfacher.«
Weiz schüttelte geistesabwesend den Kopf.
Katrin zuckte die Schultern und öffnete die Tür.
Der Raum war das Äußerste, was ein wissenschaftliches Institut an Rücksicht auf menschliche Bedürfnisse im Angesicht des Todes zu bieten hatte. Rücksicht auf Angehörige, die einen letzten Blick auf den Körper riskieren wollten, bevor dieser weitergeleitet wurde, oft auch ins Ausland. Im Keller der Rechtsmedizin landeten immerhin seltener die sterblichen Überreste von Tante Hildegard, sondern öfter die abgeschlachtete Hülle von Vladimir, Yildiray oder Kemal. Diese Jungs wurden von hier direkt in einen Transportsarg getackert und ausgeflogen, um im heimatlichen Wüstensand verscharrt zu werden. Nach einigen Tausend Kilometer Fracht wollte sicher niemand mehr einen letzten Blick werfen, daher passierte das regelmäßig hier.
Das Mädchen war in dem schummrig beleuchteten Raum aufgebahrt. Weiz trat an die Tote heran und erstarrte. Dann schlug er sich eine Hand vor den Mund und machte ein gurgelndes Geräusch. Katrin beobachtete ihn aufmerksam, aber er kotzte nicht. Er stand einfach da wie eine Gipsfigur und starrte das Mädchen an. Die tiefschwarz gefärbten Haare verdeckten gnädig den Schnitt über den Kopf, den Katrin gemacht hatte, um den Schädel aufzusägen und das Hirn aus der Denkschüssel zu holen.
Nicht zuletzt wegen der unnatürlichen Haarfarbe wirkte die weiße Haut fast durchscheinend. Ich erinnerte mich an ein Märchenbuch, in dem Schneewittchen in ihrem Sarg ungefähr so ausgesehen hatte. Natürlich ohne dieBlechpickel im Gesicht und die grob zusammengestichelte Naht bis unter das Kinn.
»Herr Weiz?«, flüsterte Jenny, die bleich und zitternd neben Katrin stand. Sie war die Einzige, die so aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Weiz rührte sich nicht.
»Herr Weiz, handelt es sich um Ihre Tochter Lila?«, fragte Katrin, obwohl es nicht ihre Aufgabe war.
Es dauerte noch einige Sekunden, bis Weiz sich bewegte. Er nahm die Hand vom Mund, richtete sich auf, drehte sich um und sah zwischen Katrin und Jenny hindurch.
»Ja«, flüsterte er. »Das ist meine Tochter.«
Martin hatte die Mittagspause durchgearbeitet, damit er früher Feierabend machen konnte. Da keine dringenden Fälle hereinkamen, konnte er sein Vorhaben auch in die Tat umsetzen. Er setzte sich in seine Schunkelbüchse und ging noch einmal Sahnes Aufzeichnungen durch. Zwei der Hausärzte, die in den Unterlagen auftauchten, kannte er. Er rief in der Praxis von Andreas Steinhauer an und schaffte es, der Sprechstundenhilfe klarzumachen, dass er dringend mit dem Herrn Doktor sprechen müsste. Die Tussi versprach einen Rückruf, der tatsächlich innerhalb weniger Minuten kam. Martin brachte sich als Studienkollege von einst in Erinnerung und vereinbarte ein Treffen für Viertel nach sechs. Da die Praxis am anderen Ende der Stadt lag und er mit seiner Schunkelbüchse grundsätzlich nur Schritttempo fuhr, machte er sich gleich auf den Weg.
»Immer noch Kamillentee?«, fragte der rothaarige Pummel, als er sich neben Martin auf die Bank des Cafés
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