Knast oder Kühlfach: Roman (German Edition)
fallen ließ. Das Lokal war mit geschwungenen Holzbänken, Kleiderhaken und Hutablagen an jeder Bank wie ein altes Eisenbahnabteil eingerichtet. Schwarz-Weiß-Fotosvon Dampfloks zierten die Wände. Nett, wenn man Eisenbahn-Nostalgiker war. Ich hatte nie zu den Pufferküssern gehört und hätte ein paar Recarositze vorgezogen, aber ich musste meinen Hintern ja nicht mehr auf eins dieser Möbel quälen.
Martin grinste verlegen.
»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte der Rotschopf. »Entschuldige, dass ich direkt zur Sache komme, aber ich habe gleich noch einen Termin.«
»Danke, dass du überhaupt so spontan zugesagt hast«, begann Martin.
»Dein zivilisiertes Höflichkeitsgesabbel bringt uns nicht weiter«, mischte ich mich ungeduldig ein.
»Ich habe eine fachliche Frage, die eher in dein als in mein Fachgebiet passt«, begann Martin.
»Welches ist dein Fachgebiet?«, fragte der Rotschopf.
»Rechtsmedizin.«
Er grinste anzüglich. »Du warst schon immer ein komischer Kauz, Martin.«
Martin lächelte, als wäre das ein Kompliment gewesen.
»In einem Altenheim hier in der Stadt hat es in den letzten Monaten ziemlich viele Todesfälle gegeben.«
Martin spulte die Informationen, die wir aus Sahnes Akten hatten, in medizinischem Fachslang herunter. Der Rotschopf lauschte so konzentriert, dass er nicht einmal aufschaute, als sein Cappuccino gebracht wurde. Er bewegte sich erst wieder, als Martin ihm einige ausgedruckte DIN-A4-Blätter vorlegte. Auf den ersten Blättern hatte Martin die verfügbaren Informationen nach medizinischen Gesichtspunkten zusammengestellt, dahinter hingen die Kopien aus dem Heim.
»Du hast die Verordnungslisten?«, fragte Steinhauer erstaunt. »Ist das eine offizielle Ermittlung?«
Martin schüttelte den Kopf.
Steinhauer warf die Blätter auf den Tisch, als hätte er sich daran verbrannt. Natürlich konnte ich seine Gedanken nicht lesen, aber ich war mir sicher, dass an prominenter Stelle die Worte »ärztliche Schweigepflicht« und »strafrechtliche Verfolgung« vorkamen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
»Okay«, sagte er schließlich langsam. »Ich nehme also an, dass es sich um, äh, Übungsunterlagen handelt. Eine Art Weiterbildung. Eine hypothetische Situation, die du zu Lernzwecken untersuchst.«
Martin holte Luft und zeigte erste Anzeichen eines Widerspruchs.
»JA!«, brüllte ich ihm ins Ohr.
Martin zuckte zusammen, schnappte reflexartig nach Luft, sagte dann aber brav: »Ja.«
Das war knapp gewesen.
»Gut, dann lass mal sehen.«
Steinhauer studierte die Blätter eine Zeit lang, dann trank er einige Schlückchen seines Cappuccinos, wieder mit geschlossenen Augen. Offenbar konnte der Typ nur hinter geschlossenen Sehdeckeln denken.
»Nun, wenn ich diese interdisziplinäre Übungsaufgabe kommentieren soll, dann würde ich sagen, dass hier tatsächlich etwas nicht ganz koscher scheint. Diese Patienten waren, wenn ich das anhand der Unterlagen beurteilen sollte, nicht so krank, dass mit einem plötzlichen Ableben zu rechnen gewesen wäre. Und von diesen beiden hier«, er tippte auf zwei Namen, »könnte ich das sogar mit einiger Sicherheit sagen, denn sie waren meine Patienten.« Er machte eine Kunstpause. »Rein hypothetisch, natürlich.«
Martin trank schweigend und in Gedanken versunken seinen Kamillentee aus.
»Was vermutest du? Einen Todesengel?«, fragte der Rotschopf.
»Ist das so naheliegend?«, wollte Martin wissen.
»Es ist eine denkbare Möglichkeit«, erwiderte der Rotschopf mit einem Blick zur Uhr. »Vielleicht fällt mir aber auch noch ein anderes Szenario ein, wenn ich ein bisschen darüber nachdenken kann. Darf ich die Papiere mitnehmen?«
Martin nickte. »Gern. Allerdings …«
»Vertraulich.« Er grinste verwegen. »Schon klar.«
6. Juli, Tag 9 nach Gregors Festnahme
Dienstagmorgen war Martin als Gutachter vor Gericht und Birgit schlief bis fast elf. Ich hatte mir schon Sorgen um sie gemacht, aber als sie aufstand, sang sie laut unter der Dusche und sah aus wie das blühende Leben. Ich atmete auf, trotz der grässlichen Trällerei. Denn wenn es etwas gibt, das selbst die tolle Birgit nicht kann, ist es singen. Wenig später saß sie vor einer riesigen Schüssel Obstsalat und starrte immer noch auf den Zettel mit den Ziffern, die Karpi ihr gegeben hatte. Sie hatte das Radio eingeschaltet und wippte im Takt mit dem Fuß. Irgendein belangloses Laladudelzeug. Wenigstens hörte sie keine Schlager und keine Zaubergeiger,
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