Knochen zu Asche
spektakulären Ausblick auf den Fluss zum Teil verdeckte.
»Bitte.« Obéline deutete auf das Sofa.
Ryan und ich setzten uns.
Obéline blieb stehen, den Blick auf uns gerichtet, eine knotige Hand am Mund. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Sekunden vergingen. Ein einzelner Schweißtropfen lief ihr die Schläfe hinunter. Dieses Gefühl schien sie aus ihrer Erstarrung zu reißen.
»Wartet hier.« Sie drehte sich um und verschwand durch den Bogengang, durch den wir hereingekommen waren.
Ryan und ich wechselten Blicke. Ich merkte, dass er angespannt war.
Die Morgensonne brannte auf das Glas. Obwohl es kaum elf Uhr war, war es in dem Zimmer bereits stickig heiß. Ich spürte, wie meine Bluse feucht wurde.
Eine Tür ging auf, dann klackerten Schritte über den Korridor. Obéline kehrte mit einem etwa siebzehnjährigen Mädchen an der Hand zurück.
Das Paar durchquerte das Zimmer und stellte sich vor uns hin.
Irgendetwas blähte sich in meiner Brust.
Das Mädchen war nur etwa einen Meter fünfzig groß. Sie hatte blasse Haut, blaue Augen und dichte, schwarze Haare, die etwa auf Kinnhöhe abgeschnitten waren. Es war ihr Lächeln, das mich nicht mehr losließ. Ein Lächeln, das nur von einer einzigen, winzigen Unvollkommenheit gestört wurde.
Ich spürte, wie Ryan neben mir erstarrte.
Der Tag hatte eine radikale Wendung genommen.
37
Ich hielt noch immer das Foto von Claudine Cloquet in der Hand. Ryans Vermisste Nummer zwei. Die Zwölfjährige, die zweitausendzwei verschwunden war, als sie in Saint-Lazare-Sud mit ihrem Fahrrad fuhr.
Ich schaute von dem Mädchen zum Foto.Winterweiße Haut. Schwarze Haare. Blaue Augen. Schmales, spitzes Kinn.
Eine Reihe weißer Zähne mit einem verdrehten Eckzahn.
»Das ist Cecile«, sagte Obéline und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. »Cecile, sag Hallo zu unseren Gästen.«
Ryan und ich standen auf.
Cecile betrachtete mich mit unverhohlener Neugier. »Sind diese Ohrringe authentique?«
»Echtes Glas«, erwiderte ich lächelnd.
»Viel Glitzer. Glitzer-o.«
»Möchtest du sie gern haben?«
»Ehrlich?«
Ich nahm die Ohrringe ab und gab sie ihr. Sie drehte sie in der Hand, ehrfürchtig, als wären es Kronjuwelen.
»Cecile lebt seit fast drei Jahren bei uns.« Obélines Blick ruhte unverwandt auf mir.
»Je fais la lessive«, sagte Cecile. »Et le ménage.«
»Du machst die Wäsche und putzt das Haus. Das muss eine enorme Hilfe sein.«
Sie nickte eifrig. »Und ich bin wirklich gut mit Pflanzen. Gut. Gut-o.«
»Wirklich?«, fragte ich.
Cecile blendete mich beinahe mit ihrem strahlenden Lächeln. »Mein Weihnachtskaktus hat tausend Blüten.« Ihre Hände malten einen großen Kreis in die Luft.
»Das ist ja erstaunlich«, sagte ich.
»Oui.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Obéline hat gar keine. Darf ich die Ohrringe wirklich behalten?«
»Natürlich«, sagte ich.
»Bitte entschuldige uns jetzt«, sagte Obéline.
Celine hob eine Schulter. »Okay. Ich schaue mir gerade die Simpsons an, aber es wird immer so verschwommen. Kannst du es reparieren?« Sie wandte sich mir zu. »Homer ist so lustig.« Ihr »so« hatte einige »o«. »Drôle. Drôle-o.«
Obéline hob den Zeigefinger, um anzudeuten, dass sie gleich wieder da sei. Dann eilte sie mit Celine aus dem Zimmer.
»Claudine Cloquet«, sagte ich mit bemüht ruhiger Stimme. Ryan nickte nur. Er tippte eben eine Nummer in sein Handy.
»Wie zum Teufel soll –«
Ryan hob die Hand.
»Ryan hier«, sagte er in das Gerät. »Bastarache hat Cloquet in einem Wohnhaus auf der Île d’Orléans.« Kurze Pause. »Dem Mädchen geht’s im Augenblick gut. Aber Bastarache ist flüchtig. «
Ryan nannte Farbe, Modell, Baujahr und Nummernschild des Mercedes. Dann Adresse und Lage von Obélines Haus. Seine Kiefermuskeln traten hervor, während er sich die Antwort anhörte. »Sagt Bescheid, wenn ihr ihn habt. Falls er hier auftaucht, gehört sein Arsch mir.«
Ryan schaltete aus und ging im Zimmer auf und ab.
»Glaubst du, dass er zurückkommt?«, fragte ich.
»Sie erwartet –«
Ryan erstarrte. Unsere Blicke trafen sich, und wir wurden uns eines tiefen Brummens bewusst, mehr eine Vibration der Luft als ein Geräusch. Das Brummen wurde lauter. Es wurde zum Schnurren eines Motors.
Ryan rannte den Korridor entlang und in das Esszimmer. Ich folgte.Wir stellten uns neben ein Fenster und starrten hinaus.
Die Fata Morgana eines Autos schwebte über der Teerstraße, die vom Chemin Royal
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