Knochen zu Asche
Gliedmaßen waren verschrumpelte Stümpfe. Hände und Füße fehlten.
Keine Finger, keine Abdrücke. Keine Zähne, keine Zahnbefunde. Und die dritten Beißerchen sahen aus wie ein Klumpen Kaugummi.
Aber eins vereinfachte mir meine Aufgabe. 1988 hatte sich das vermutliche Opfer eine brandneue Hüfte spendiert. Antemortale Röntgenaufnahmen klemmten nun an den Lichtkästen, wo zuvor Geneviève Doucets gehangen hatten.
Opas Prothese leuchtete weiß am oberen Ende des rechten Oberschenkelknochens. Postmortale Röntgenbilder zeigten einen ähnlichen Neonpilz an der gleichen Stelle im verbrannten rechten Bein.
Ich setzte einen Schnitt am äußeren Beckenrand, schob verkohlte Muskelstränge und Sehnen beiseite, stemmte die Metallkugel aus der Hüftpfanne und zerteilte dann das proximale obere Drittel des Knochens mit einer Autopsiesäge.
Weiteres Säubern legte schließlich die Seriennummern frei. Ich ging zur Arbeitsfläche und blätterte in den antemortalen Orthopädieberichten.
Bonjour , Opa!
Ich fotografierte und beschriftete die Prothese und steckte sie in eine Tüte, dann wandte ich mich wieder den Überresten für eine vollständige skelettale Untersuchung zu. Auch wenn das Implantat die Identifikation bereits hundertprozentig machte, würden anthropologische Daten doch nützliche Zusatzinformationen liefern.
Die Schädelfragmente zeigten große Brauenwülste und Warzenfortsätze und einen Muskelansatz am Hinterhaupt von der Größe meines Turnschuhs.
Männlich. Ich notierte es mir und wandte mich dem Becken zu.
Kurzes, kräftiges Schambein. V-förmiger subpubischer Winkel. Schmale Ischiaskerbe.
Männlich. Ich notierte mir eben meine Beobachtungen, als die äußere Tür auf- und wieder zuging.
Ich hob den Kopf.
Im Vorzimmer stand ein großer Mann mit sandfarbenen Haaren. Er trug ein Tweedsakko, eine gelbbraune Hose und ein Hemd vom selben verblüffenden Blau wie seine Augen. Burberry. Ich wusste das. Ich hatte es ihm geschenkt.
Zeit, um über Lieutenant-Détective Andrew Ryan, Section des Crimes Contre la Personne, Sûreté du Québec, zu sprechen.
Ryan arbeitet im Morddezernat der Provinzpolizei. Ich bearbeite Leichen für den Coroner dieser Provinz. Da kann sich jeder vorstellen, wie wir uns kennengelernt haben. Jahrelang hatte ich versucht, eine professionelle Distanz zu wahren, aber
Ryan spielte nach anderen Regeln. Freizügigen Regeln. Da ich seinen Ruf kannte, ließ ich mich nicht darauf ein.
Doch dann ging meine Ehe in die Brüche, und Ryan drehte seinen legendären Charme voll auf. Ich ließ mich einwickeln. Na und? Eine Weile lief alles gut. Sehr gut.
Dann brachte das Schicksal familiäre Verpflichtungen ins Spiel. Eine neu gefundene Tochter drängte sich in Ryans Leben. Mein von mir getrennter Ehemann wurde auf der Isle of Palms, South Carolina, von einem Idioten angeschossen. Die Pflicht rief nicht. Sie hämmerte in voller Kampfausrüstung an die Tür.
Um die Sache noch komplizierter zu machen, weckte Petes Beinahe-Begegnung mit dem Tod bei mir wieder Gefühle, die ich längst tot geglaubt hatte. Für Ryan sahen sie ganz und gar nicht tot aus. Er zog sich zurück.
War der Lieutenant-Détective noch immer ein Mann erster Wahl? Auf jeden Fall. Aber die Besetzungscouch war inzwischen ein bisschen voll. Seit unserem Abschied im vergangenen Monat hatten Ryan und ich nicht mehr miteinander gesprochen.
»Hey«, sagte ich. Sagt man im Süden für »hi« oder »bonjour« .
»Fahrzeugbrand?« Ryan deutete auf Opa.
»Im Bett geraucht.«
»Ein Zeichen unserer immer selbstgefälliger lebenden Gesellschaft. «
Ich schaute Ryan fragend an.
»Kein Mensch liest mehr Aufschriften.«
Mein Blick blieb, wie er war.
»Riesige, fette Warnung auf jedem Päckchen. Zigarettenrauchen kann Ihrer Gesundheit schaden.«
Ich verdrehte die Augen.
»Wie geht’s dir?« Ryans Stimme wurde weicher. Oder bildete ich mir das nur ein?
»Gut. Und dir?«
»Alles gut.«
»Gut.«
»Gut.«
Ein Dialog von Mittelstuflern, nicht ehemaligen Geliebten. Waren wir das?, fragte ich mich. Ehemalige?
»Wann bist du angekommen?«
»Gestern.«
»Guter Flug?«
»Bin rechtzeitig gelandet.«
»Besser als früh und plötzlich.«
»Ja.«
»Du arbeitest lange.«
Ich schaute auf die Uhr. Da ich in Saal vier mit seiner speziellen Lüftung ziemlich isoliert war, hatte ich die Autopsietechniker gar nicht gehen gehört. Jetzt war es Viertel nach sechs.
»Stimmt.« Mann, klang das alles aufgesetzt. »Wie geht’s Charlie?
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