Knochen zu Asche
wieder da.
»Willst du heute Nacht durchmachen?«, fragte ich mit Blick auf seine Hardcore-Wahl.
»Ich habe mir Akten mitgenommen.«
Das war keine Einladung, Cowgirl. Ich wartete, bis Ryan bereit war anzufangen.
»Ich mache es chronologisch. Was die alten Fälle angeht, da haben wir drei Vermisste und zwei nicht identifizierte Leichen. Zusammen mit der Wasserleiche aus dem Lac des Deux Montagnes ergibt das drei nicht identifizierte Tote.«
Ryan rührte Zucker in seinen Espresso.
»Siebenundneunzig. Vermisste Nummer eins. Kelly Sicard, achtzehn, lebt bei ihren Eltern in Rosemère. Am zwölften März verlässt sie um ein Uhr vierzig nachts eine Gruppe Saufkumpane, um einen Bus zu erreichen. Doch den kriegt sie nicht.«
»Die Kumpel sind überprüft?«
»Und die Familie und ihr Freund.«
Ryan trank einen Schluck. Seine Hand an der winzigen, weißen Tasse sah aufreizend männlich aus.
»Neunundneunzig. Tote Nummer eins. Die Leiche einer Heranwachsenden verfängt sich in einem Bootspropeller in der Rivière des Mille Îles . Du hast den Fall mit LaManche bearbeitet.«
Ich erinnerte mich. »Die Leiche war verfault. Ich schätzte damals, dass das Mädchen weiß war und vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Wir machten eine Gesichtsrekonstruktion, aber das Mädchen konnte nie identifiziert werden. Die Knochen liegen noch in meinem Lager.«
»Das ist sie.«
Ryan kippte den Rest seines Espresso.
»Zweitausendeins. Tote Nummer zwei. In Dorval wird am Ufer beim Forest and Stream Supper Club ein Teenagermädchen gefunden. LaManche zufolge hatte die Leiche weniger als achtundvierzig Stunden im Fluss gelegen. Er macht eine Autopsie, kommt zu dem Schluss, dass das Mädchen bereits tot war, als sie im Wasser landete, findet keine Schuss-, Stich- oder
Schlagverletzungen. Ihr Foto wird in der ganzen Provinz verteilt. Aber niemand meldet sich.«
Ich erinnerte mich auch an diesen Fall. »Das Mädchen wurde schließlich als unbekannt begraben.«
Ryan nickte und erzählte weiter.
»Zweitausendzwei.Vermisste Nummer zwei. Claudine Cloquet radelt mit ihrem Schwinn-Dreigangtreter durch ein Waldgebiet in Saint-Lazare-Sud . Claudine ist zwölf Jahre alt und leicht zurückgeblieben. Zwei Tage später wird ihr Fahrrad gefunden. Claudine nicht.«
»Ziemlich unwahrscheinlich, dass sie durchgebrannt ist.«
»Vater ist verdächtig, hat aber ein Alibi. Wie der Rest der Familie. Der Vater ist inzwischen gestorben, die Mutter war zwei Mal wegen Depressionen in stationärer Behandlung.
Zweitausendvier. Vermisste Nummer drei. Erster September. Anne Girardin verschwindet mitten in der Nacht aus ihrem Zuhause in Blainville.« Ryan spannte die Kiefermuskeln an, entspannte sie wieder. »Die Kleine ist zehn Jahre alt.«
»Ziemlich jung, um einfach abzuhauen.«
»Ist aber schon vorgekommen. Und das war eine Zehnjährige, die sich auf der Straße auskannte. Auch hier ist der Alte ein Loser, wir konnten aber nichts finden, was ihn mit ihrem Verschwinden in Verbindung brächte. Dasselbe für den Rest des Haushalts. Die Überprüfung der Nachbarschaft bringt nichts.«
Wir verstummten beide, weil wir uns an die gigantische Suche nach Anne Girardin erinnerten. Alarmstufe orange. SQ. SPVM. Suchhunde. Örtliche Freiwilligentrupps. Personal vom NCECC, dem nationalen Koordinationszentrum gegen Kindsmissbrauch. Gefunden wurde rein gar nichts. Alle Hinweise erwiesen sich als Nieten.
»Und jetzt habe ich Tote Nummer drei, die Wasserleiche aus dem Lac des Deux Montagnes.«
»Sechs Mädchen. Drei im Wasser oder in der Nähe eines
Gewässers gefunden. Drei Vermisste, die wahrscheinlich keine Ausreißer sind.« Ich fasste das Gesagte zusammen. »Irgendwelche anderen Verbindungen?«
Wieder spannte Ryan die Kiefermuskeln an. »Kann sein, dass wir noch eine vierte Vermisste haben. Phoebe Jane Quincy, dreizehn. Lebt in Westmont. Vermisst, seit sie vorgestern ihr Zuhause verließ, um zu einer Tanzstunde zu gehen.«
Ryan zog ein Foto aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Ein Mädchen, das Marilyn in Das verflixte siebte Jahr nachmachte, in einem Kleid, das sich im Luftstrom aufbauschte. Licht von hinten ließ ihre Figur durch den dünnen weißen Stoff durchscheinen.
Dreizehn?
»Wer hat das Foto aufgenommen?«
»Die Eltern haben keine Ahnung. Haben es ganz unten in einer Wäscheschublade gefunden. Wir gehen dem nach.«
Ich schaute das Foto an. Die Darstellung war zwar nicht übermäßig sexuell, aber doch verstörend.
»Ihre Freundinnen sagen, dass
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