Knochen zu Asche
fragte, tischte er eine andere Story auf. An diesem Tag sprach er Australisch.
»Wie lange ist sie schon verschwunden?« Bill winkte dem Barkeeper, und gleich darauf stand ein Diet Coke vor mir.
»Drei Tage. Wollte in die Tanzstunde. Allmächtiger.«
»Hast du was damit zu tun?«, fragte mich Bill.
»Nein.«
»Ryan?«
»Ja.«
»Wo ist Ryan? Bist du diesen Penner endlich losgeworden?«
Ich nippte an meinem Coke.
»Sieht nicht gut aus, was?« Gil erinnerte an eine alternde, französische Version des Fonz.
»Vielleicht taucht sie ja wieder auf«, sagte ich.
»Glaubt die Polizei, dass irgend so ein Mistkerl sie sich geschnappt hat?« Black Jim.
»Ich weiß es nicht.«
»Kannst du dir vorstellen, was ihre armen Eltern durchmachen? « Gil.
»Wenn die diesen Wichser fassen, dann melde ich mich freiwillig und schneide ihm den Schwanz ab.« Chantal.
Ich starrte in mein Glas und zweifelte daran, ob dieser Abstecher hierher wirklich das Richtige für mich war. Ich hatte den Mantel der Trauer und des Todes abstreifen und dann abgelenkt und erfrischt zu Hause ankommen wollen, aber so wie es aussah, sollte ich heute keine Entspannung finden.
Was war tatsächlich mit Phoebe passiert? War sie einfach nur irgendwo da draußen auf der Straße, allein zwar, aber stur ihren
eigenen Plan verfolgend? Oder wurde sie an einem dunklen Ort festgehalten, hilflos und verängstigt? War sie überhaupt noch am Leben? Wie überstanden ihre Eltern die endlosen Stunden der Unsicherheit?
Und was war mit der Leiche aus dem Lac des Deux Montagnes? Wer war das Mädchen? Hatte man es ermordet?
Und das andere Mädchen in meinem Labor? Hippos Mädchen. Wann war sie gestorben? Ein irrationaler Gedankensprung. Konnte das Skelett Évangéline Landry sein? Wo war Évangéline?
Ich bemerkte, dass Bill mit mir sprach. »’tschuldigung.Was?«
»Ich habe gefragt, wo Ryan ist.«
Offensichtlich hatte es sich im Pub noch nicht herumgesprochen, dass Ryan und ich uns getrennt hatten. Oder was immer wir getan hatten.
»Ich weiß es nicht.«
»Alles okay mit dir? Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Ich habe ein paar harte Tage hinter mir.«
»Verdammte Scheiße«, sagte Chantal.
Ich hörte der Unterhaltung noch ein paar Minuten zu. Dann trank ich mein Coke aus und machte mich auf den Heimweg.
Der Freitagmorgen brachte keine neuen Anthropologiefälle. Ich schrieb eben einen Bericht über den Schädel aus Iqaluit, als Ryan in mein Labor kam.
»Schöne Frisur.«
Mit der linken Hand steckte ich mir automatisch eine lose Strähne hinters Ohr, doch dann erkannte ich, dass Ryans Bemerkung dem Schädel gegolten hatte. Er war von der Sonne gebleicht, und oben auf der Krone prangte grünes Moos.
»Der lag ziemlich lange in der Tundra.«
Normalerweise hätte Ryan gefragt, wie lange. Er tat es nicht. Ich wartete, dass er mir den Grund seines Besuchs nannte.
»Hab heute Morgen einen Anruf von Hippo Gallant bekommen. Ein Kerl namens Joseph Beaumont trainiert gerade sein Sitzfleisch in Bordeaux.«
Bordeaux ist die größte Haftanstalt in Quebec.
»Gestern Abend kam in den Sechs-Uhr-Nachrichten auf CFCF ein Bericht über Phoebe Quincy. Und darin wurden auch Kelly Sicard und Anne Girardin erwähnt.«
»Nur die beiden?«
Ryan hob die Hände, was wohl »Wer weiß, warum?« bedeuten sollte. »Beaumont sah den Bericht und bat danach um einen Termin mit dem Wärter. Behauptet, er weiß, wo Sicard begraben ist.«
»Ist er glaubwürdig?«
»Beaumont könnte nur ein Schwindler sein, der sich das Leben ein bisschen angenehmer gestalten will. Aber ganz abtun darf man den Kerl auch nicht.«
»Was sagt er?«
»Bietet mir was an.«
»Und?«
»Wir verhandeln noch. Wollte dir nur Bescheid geben. Falls der Tipp einleuchtend klingt, schicken wir sofort ein Team dorthin. Wir wollen dort sein, bevor die Presse Lunte riecht.«
»Ich werde bereit sein.«
Ich überprüfte eben meine Ausrüstung, als Ryan anrief.
»Wir sind so weit.«
»Wann?«
»Der Transporter der Spurensicherung ist schon unterwegs.«
»Ich treffe dich in fünf Minuten unten in der Lobby.«
Ryan fuhr auf der Autoroute 15 in nordwestlicher Richtung aus der Stadt hinaus und dann nach Süden auf Saint-Louis-de-Terrebonne zu. Um die Mittagszeit herrschte nur schwacher Verkehr. Unterwegs brachte er mich auf den neuesten Stand.
»Beaumont hat sich damit zufriedengegeben, dass er seine
Postprivilegien zurückerhält. Vor drei Monaten bekam der Trottel ein Exemplar von ›Catch-22‹ mit LSD
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