Knochen zu Asche
sie Model werden will«, sagte Ryan.
Könnte sie durchaus werden, dachte ich, als ich mir die schlanke Figur, die langen Haare und die leuchtenden grünen Augen betrachtete.
»Viele kleine Mädchen wollen Model werden«, sagte ich.
»Wolltest du auch mal?«
»Nein.«
»Auch Kelly Sicard träumte vom Ausbrechen.«
»Dürftige Spur.«
»Besser dürftig als gar keine«, sagte Ryan.
Wir sprachen noch ein paar Minuten über die Fälle. Ich hörte vorwiegend zu.
Ryan lässt sich von Gewalt oder Tod nicht so leicht aus der Fassung bringen. Er sieht beides häufig und hat gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Aber ich kenne den Mann. Weiß, dass
der Missbrauch von Schutzlosen, die sich nicht verteidigen können, ihn sehr betroffen macht. Mich ebenfalls. Ich war mir meiner Gefühle in diesem Augenblick sehr deutlich bewusst, hatte ich doch die letzten Stunden mit den Knochen eines Kinds verbracht.
Obwohl Ryan behauptete, nur müde zu sein, konnte ich doch die Traurigkeit und die Frustration dahinter erkennen. Nun gut. Das bringt der Job so mit sich. Aber spürte ich sonst noch etwas? Gab es noch einen weiteren Grund für Ryans Aufgewühltsein, der ihm seine gewohnte Unbeschwertheit nahm und ihn wieder zum Rauchen verführte? Oder bildete ich mir das alles nur ein?
Nach einer Weile winkte Ryan nach der Rechnung.
Ich ging auf den Parkplatz zurück, startete meinen Mazda und fuhr in Richtung Heimat. Ich brauchte Erholung. Eine Dusche. Und Zeit zum Nachdenken.
Einen Drink zu brauchen, konnte ich mir nicht leisten.
Als ich in westlicher Richtung auf die René-Lévesque einbog, kurbelte ich das Fenster herunter. Die Luft war warm und feucht und unnatürlich schwer, der Himmel eine schwarze Leinwand, über die hin und wieder ein Blitz zuckte.
Der Abend roch nach Regen.
Bald würde ein Sturm losbrechen.
9
Der nächste Tag verging, ohne dass ich von Hippo oder Ryan etwas hörte. Harry war da eine ganz andere Geschichte. Die kleine Schwester hatte Termine vereinbart für die Besichtigung einer Penthouse-Wohnung in der Innenstadt von Houston, einer Pferderanch im Harris County und einem Anwesen am Strand von South Padre Island. Ich schlug ihr vor, sie solle sich erst einmal die Zeit nehmen zu überlegen, was sie nach Arnoldo
wirklich wollte, anstatt im südöstlichen Texas herumzugondeln und auf Inspiration zu hoffen.
Ich stapfte durch das Chaos in meinem Büro und bürstete dann weiter Erde von den Rimouski-Überresten. Ich gebe meinen Unbekannten oft Spitznamen. Irgendwie komme ich ihnen dadurch näher. Obwohl Hippo mit dem Fall eigentlich nur am Rande zu tun hatte, war das Skelett für mich inzwischen Hippos Mädchen.
Je mehr Details ich über Hippos Mädchen herausfand, desto verwirrender wurde das Bild.
Gegen elf traf ein Schädel aus Iqaluit ein, ein Stecknadelkopf auf der Quebecer Karte Trillionen Meilen weiter nördlich an der Frobisher Bay. Ich suchte den Ort im Atlas. Obwohl ich lieber an Hippos Mädchen weitergearbeitet hätte, hielt ich mich an das Versprechen, das ich LaManche gegeben hatte, und nahm mir den Neuankömmling vor.
Gegen fünf verließ ich das Institut, lieferte die Knochenprobe und die Socke der Leiche aus dem Lac des Deux Montagnes bei dem Biologen an der McGill ab und machte dann kurz einen Abstecher zu Hurley’s für meine Version eines Pints. Diet Coke auf Eis mit einer Scheibe Zitrone. Ich ging natürlich nicht wegen der Limonade hin, sondern wegen des Kontakts mit Freunden, den der Pub mir bieten würde.
Als ich durch den Spielsaal ging, schaute ich kurz hoch zu dem an der Wand befestigten Fernseher. Zu sehen war ein klassisches Schulporträt als Hintergrund für einen ernst dreinblickenden Moderator. Die Augen des jungen Mädchens waren grün und voller Schalk, das Haar in der Mitte gescheitelt und zu schulterlangen Zöpfen geflochten. Phoebe Quincy.
Eine kleine Gruppe Stammgäste saß an der Bar im Untergeschoss: Gil, Chantal, Black Jim und Bill Hurley selbst. Sie begrüßten mich mit düsteren Gesichtern und unterhielten sich dann weiter über Quincys Verschwinden.
»Heilige Mutter Gottes, dreizehn Jahre alt.« Chantal schüttelte
den Kopf und bestellte sich ein frisches Bier.Als Neufundländerin konnte sie die Besten der Besten unter den Tisch trinken. Und tat es oft auch.
»Hoffen wir mal, dass sie einfach nur ausgerissen ist.« Black Jims Akzent änderte sich mit jeder Geschichte, die er über sich erzählte. Niemand wusste, wo Jim eigentlich herkam. Sooft ihn jemand
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