Knochen zu Asche
im Einbandkleister. «
»Kreative Kumpel. Was erzählt er?«
»Vor sechs Jahren teilte Beaumont sich eine Zelle mit einem Kerl namens Harky Grissom. Er behauptet, Grissom hätte ihm von einem Mädchen erzählt, das er siebenundneunzig umgebracht hatte. Sagte, er hätte sie mitten in der Nacht an einer Bushaltestelle aufgegabelt, mit nach Hause genommen, vergewaltigt und ihr dann mit einem Steckschlüssel den Schädel eingeschlagen. «
»Beaumont könnte Berichte über Sicards Verschwinden gelesen oder gehört haben.«
»Grissom erzählte Beaumont, das Mädchen, das er gekillt hätte, sei ganz verrückt nach NASCAR-Rennen gewesen. Behauptete, er hätte sie mit dem Versprechen angelockt, sie würde Mario Gosselin kennenlernen.«
Ich sah zu, wie die gelben Mittelstreifen über Ryans dunkle Sonnenbrille huschten.
»Dass Sicard Stockcar-Rennen mochte, stimmt genau.« Ryan schaute mich an, und die gelben Streifen rutschten von der Brille. »Aber das gelangte nie an die Öffentlichkeit.«
»Wo ist Grissom jetzt?«
»Wurde neunundneunzig begnadigt. Und starb im selben Jahr bei einem Autounfall.«
»Der hilft uns nicht mehr weiter.«
»Nicht ohne Séance, aber der hätte uns sowieso nicht geholfen. Wir müssen uns auf Beaumonts Erinnerung verlassen.«
Ryan bog nach rechts ab. Wir fuhren durch Wald zu beiden Seiten der Straße. Augenblicke später sah ich, was ich erwartet hatte. Am rechten Straßenrand standen der Lkw der LSJML-Spurensicherung, ein schwarzer Transporter des Coroners, ein SQ-Streifenwagen, ein ziviler Chevrolet Impala und ein Geländewagen.
Anscheinend hatten Tempo und Verschwiegenheit gewirkt. Kameras oder Mikrofone waren nirgendwo zu sehen. Kein einziger Kuli über einem Block. Zumindest für den Augenblick.
Hippo redete mit zwei Uniformierten. Zwei Techniker der Leichenhalle rauchten neben ihrem Transporter. Ein Kerl in Zivil goss für einen Bordercollie Wasser aus einer Flasche in eine Schüssel.
Ryan und ich stiegen aus. Die Luft traf mich wie Karamellsirup. An diesem Morgen hatte die Gazette Regen und Temperaturen über dreißig Grad angekündigt. Juni in Quebec. Stellen Sie sich vor.
Während wir auf Hippo zugingen, erklärte Ryan mir die Lage der Dinge.
»Laut Beaumont erzählte Grissom von einer verlassenen Scheune abseits der Route 335,in einem Waldstück, das an eine Pferdefarm grenzt.«
Ich folgte der Kompassnadel von Ryans Hand.
»Die Straße ist hinter uns. Der Parc équestre de Blainville ist hinter diesen Bäumen da. Saint-Lin-Jonction und Blainville liegen im Süden.«
Ich spürte eine gewisse Enge in der Brust. »Anne Girardin verschwand in Blainville.«
»Ja.« Ryan hielt den Blick geradeaus gerichtet.
Wir erreichten die Gruppe. Hände wurden geschüttelt, Begrüßungen ausgetauscht. Vielleicht war es die klebrige Hitze. Vielleicht das Unbehagen angesichts dessen, was wir möglicherweise gleich finden würden. Keiner riss Witze oder flapsige Sprüche.
»Die Scheune ist ungefähr zehn Meter da drin.« Hippos Gesicht war nass, seine Achselhöhlen dunkel. »Ein guter Windstoß haut sie um.«
»Was wurde bereits unternommen?«, fragte Ryan.
»Hab den Hund mal rumschnüffeln lassen«, sagte Hippo.
»Mia«, warf der Hundeführer dazwischen.
Der Collie stellte beim Klang seines Namens die Ohren auf.
Hippo verdrehte die Augen.
»Sie heißt Mia.« Auf der Brusttasche des Hundeführers war Sylvain eingestickt.
Hippo ist berüchtigt für seine Abneigung gegen die »moderne Scheißtechnik«, wie er das nennt. Leichenhunde beäugte er offenbar genauso kritisch wie Computer, Iris-Scanner und Tonwahltelefone.
»Mia wirkte nicht sonderlich beeindruckt.« Hippo zog ein Döschen aus der Tasche, schnippte den Deckel mit dem Daumen ab, schüttelte ein paar Magensäurehemmer heraus und schob sie sich in den Mund.
»Die Scheune ist voller Pferdescheiße.« Sylvain klang leicht gereizt. »Das beeinträchtigt ihre Witterung.«
»GPR?« Ich kürzte den Wortwechsel mit meiner Frage nach einem Ground Penetration Radar, einem Bodendurchdringungsradar, ab.
Hippo nickte und drehte sich um. Ryan und ich folgten ihm in das Waldstück. Die Luft roch nach Moos und lehmiger Erde. Kein Lüftchen regte sich in dem dichten Laubwerk. Schon nach wenigen Metern schwitzte ich und atmete schwer.
Nach einer halben Minute hatten wir die Scheune erreicht. Der Holzbau stand auf einer Lichtung kaum größer als er selbst und hatte Schlagseite wie ein Schiff in schwerer See. Die Bretter waren grau und
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