Knochen zu Asche
Aber es sind nicht nur die Füße.«
Ich legte Lisas merkwürdigen Knochen unter das Mikroskop. »Das ist ein Fingerknochen.«
Ryan betrachtete schweigend die pockennarbige Oberfläche.
Nun ersetzte ich den Knochen durch eins der vorhandenen Fingerendglieder. »Das ebenfalls.«
»Das Loch ist so groß, dass eine ganze U-Bahn durchfahren könnte.«
»Foramina können von der Größe her sehr unterschiedlich sein. Wie du gesagt hast, es könnte sein, dass diese riesigen Löcher normal für das Mädchen waren.« Selbst für mich klang ich nicht sehr überzeugend.
»Was ist mit dem Rest des Skeletts?«, fragte Ryan.
»Ich bin über Hände und Füße noch nicht hinausgekommen. Und so viel ist auch nicht mehr da.«
»Vorläufige Diagnose?«
»Verstärkter Blutfluss in die Extremitäten.Vielleicht. Deformation der Fußknochen. Vielleicht. Rindenzerstörung an einem
Mittelhandknochen.« Ich hob frustriert die Hände. »Lokale Infektion? Symptome einer Allgemeinerkrankung? Postmortale Zerstörung, entweder absichtlich oder natürlich? Eine Kombination von allem?« Ich ließ die Hände wieder sinken. »Ich habe keine Diagnose.«
Mein Labor ist zwar alles andere als ein Hightechtempel, aber es genügt seinem Zweck. Zusätzlich zu den Arbeitstischen, dem Kocher und dem neuen Supermikroskop ist es mit dem Üblichen ausgestattet: Neonröhren an der Decke, Fliesenboden, Waschbecken, Rauchabzug, eine Augenspülstation für den Notfall, Fotoständer, Lichtkästen, Schränke mit Glasfronten. Das kleine Fenster über dem Waschbecken geht auf den Gang hinaus. Das große hinter meinem Schreibtisch bietet einen Ausblick über die Stadt.
Ryans Blick wanderte nun zu Letzterem. Der meine folgte. Zwei Schemen spiegelten sich im Glas. Ein großer Mann und eine schlanke Frau, die Gesichter nicht zu erkennen, durchscheinende Gestalten vor dem St. Lawrence und der Jacques-Cartier-Brücke.
Ein angespanntes Schweigen legte sich über den Raum, eine Leere, die gefüllt werden wollte. Ich gab nach.
»Aber dieses Skelett sieht ziemlich alt aus.«
»LaManche will deshalb nicht alle Register ziehen.«
»Nein.« Ich schaltete das Mikroskoplicht aus.» Willst du über die Fälle reden, an denen du arbeitest?«
Ryan zögerte so lange, dass ich schon dachte, er wollte nicht antworten.
»Kaffee?«
»Sicher.« Das war das Letzte, was ich brauchte. Meine vierte Tasse stand kalt auf meinem Schreibtisch.
Habitat 67 ist ein modernes Pueblo aus aufeinandergestapelten Betonkästen. Ursprünglich erbaut als architektonisches Experiment für die Expo 67, ruft der Komplex noch immer starke
Gefühle hervor. Das ist untertrieben. Die Montrealer lieben ihn oder hassen ihn. Keiner ist neutral.
Habitat 67 liegt am St. Lawrence gegenüber dem Vieux-Port. Da Ryan dort wohnt und meine Wohnung in centre-ville liegt, entschieden wir uns für ein Café in der Mitte.
Ryan und ich waren beide mit dem Auto da, deshalb fuhren wir getrennt in die Altstadt hinein. Juni ist Hochsaison, und wie erwartet, lief der Verkehr stockend, auf den Bürgersteigen wimmelte es von Menschen, und an den Bordsteinen parkten die Autos Stoßstange an Stoßstange.
Auf Ryans Tipp hin bog ich mit meinem Mazda in eine Auffahrt ein, die von einem orangefarbenen Gummikegel blockiert wurde. Auf einem handgemalten Schild stand Plein. Besetzt.
Ein Mann in Sandalen, Shorts und einem Red-Green-T-Shirt kam zu mir. Ich nannte ihm meinen Namen. Der Mann hob den Kegel an und winkte mich hinein. Polizistenprivileg.
Auf dem Weg hügelabwärts über die Place Jacques-Cartier kam ich an alten Steinhäusern vorbei, die jetzt Souvenirläden, Restaurants und Bars beherbergten. Touristen und Einheimische bevölkerten die Terrassen und schlenderten über den Platz. Ein Stelzengänger jonglierte mit Bällen und erzählte Witze. Ein anderer spielte auf Löffeln und sang.
Als ich auf die gepflasterte Rue Saint-Paul einbog, wehte mir der Geruch von Fisch und Öl vom Fluss her entgegen. Ich konnte sie zwar nicht sehen, wusste aber, dass Ryans Wohnung sich am gegenüberliegenden Ufer befand. Meine Meinung? Habitat 67 ähnelt einer riesigen kubistischen Skulptur, die, wie das Kreuz auf dem Mont Royal, aus der Entfernung besser wirkt als aus der Nähe.
Ryan war noch nicht da, als ich das Café betrat. Ich ging zu einem Tisch im hinteren Teil und bestellte mir einen koffeinfreien Cappuccino. Ryan setzte sich zu mir, als die Kellnerin ihn brachte. Augenblicke später war sie mit seinem doppelten Espresso
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