Knochen zu Asche
dass das Mädchen begraben wurde, und dann wurden die Knochen für eine gewisse Zeit über der Erde aufbewahrt. Das Problem ist, ich weiß rein gar nichts über den Kontext. Wie begraben? In sandigem Boden? Saurem Boden? Flaches Grab? Ein tiefes? In einem Ölfass?
Die Zeit seit Todeseintritt könnte zehn, vierzig oder hundertvierzig Jahre betragen.«
Hippo dachte auch darüber eine Weile nach. Dann:
»Wie gut kannten Sie die Familie dieses Mädchens?«
»Ich kannte Évangélines Tante und Onkel, aber nur oberflächlich. Ich sprach damals kein Französisch, und die beiden waren sehr unsicher im Englischen. Laurette war nur sehr selten auf Pawleys Island, und sie war nicht zweisprachig, und deshalb hieß es bei den wenigen Begegnungen zwischen uns eigentlich immer nur Hallo und Auf Wiedersehen.«
»Sie sagten, es gab auch noch eine Schwester?«
»Obéline, acht Jahre jünger als Évangéline.«
Hippo bog auf die Papineau ein. Inzwischen krochen wir nur noch, der Verkehr lief Stoßstange an Stoßstange.
»Ben. Sie kennen das System, die Jungs vom Morddezernat müssen sich auf aktuelle Fälle konzentrieren. Nur wenn sie Zeit haben, können sie sich alte, ungelöste anschauen. Das Problem ist, sie haben nie Zeit, weil dauernd irgendjemand irgendjemanden umbringt. Hier kommen wir von den Altfällen ins Spiel. Wir nehmen uns Akten vor, die niemand mehr bearbeitet.«
Hippo blinkte links und wartete, bis drei Teenager über den Zebrastreifen gelatscht waren. Jeder trug Klamotten, in denen er auch die anderen beiden hätte unterbringen können.
»Von neunzehnsechzig bis zweitausendfünf hatten wir fünfhundertdreiundsiebzig dossiers non résolus in dieser Provinz. Die Abteilung für Altfälle wurde zweitausendvier eingerichtet. Seitdem haben wir sechs von diesen ungelösten Fällen aufgeklärt. «
Vierzig Jahre. Sechs Antworten. Fünfhundertsiebenundsechzig Familien, die noch immer warteten. Das machte mich traurig.
»Wie können so viele mit einem Mord davonkommen?«
Hippo zog eine Schulter hoch. »Vielleicht gibt’s keine Beweise, keine Zeugen.Vielleicht macht irgendjemand einen Fehler.
Bei den meisten Ermittlungen ist es so, dass man, wenn man nicht gleich in den ersten Tagen eine tragfähige Spur findet, gar nicht weiterkommt. Jahre vergehen. Der Ordner füllt sich mit Formularen, auf denen‚ ›keine neuen Entwicklungen‹ steht. Irgendwann beschließt der Detective, dass es Zeit ist, sich anderen Fällen zuzuwenden.Traurig, aber was ist schon ein weiterer ungelöster Mord?«
Wir waren nur noch ein paar Blocks vom Édifice-Wilfrid-Derome entfernt. Ich fragte mich, ob Ryan irgendwo hinter uns war, auf dem Rückweg in die SQ-Zentrale. Fragte mich, ob er in meinem Büro oder meinem Labor vorbeischauen würde.
Während er rechts auf die Parthenais einbog, redete Hippo weiter.
»Einige der Cowboys vom Morddezernat glauben, dass man uns Altfälle-Jungs einfach nur aufs Abstellgleis geschoben hat. So seh ich das nicht. Nach meiner Meinung ist ein Mord nicht weniger wichtig, nur weil er vor zehn Jahren passiert ist. Oder zwanzig. Oder vierzig.Wenn Sie mich fragen, sollten Opfer von Altfällen Priorität haben. Die warten schon länger.«
Hippo bog auf den Parkplatz des Wilfrid-Derome ein, fuhr eine Fahrzeugreihe entlang und bremste neben meinem Mazda. Während er den Impala auf Parken schaltete, wandte er sich mir zu.
»Und für Kinder trifft das doppelt zu. Die Familien von vermissten und ermordeten Kindern durchleiden Höllenqualen. Jedes Mal, wenn sich der Vorfall jährt, der Tag, an dem das Kind entführt oder die Leiche gefunden wurde. Jedes Weihnachten. Jedes Mal, wenn der Geburtstag des Kindes auf dem Kalender steht. Ein totes Kind ist eine große, hässliche Wunde, die nicht heilen will.« Unsere Blicke trafen sich. »Das Schuldbewusstsein frisst sie auf. Was ist passiert? Warum? Warum waren wir nicht da, um den Jungen oder das Mädchen zu retten? Eine solche Hölle wird nie kalt.«
»Nein«, entgegnete ich mit wachsender Hochachtung für den Mann neben mir.
Hippo griff zwischen uns hindurch, schnappte sich sein Sakko vom Rücksitz und holte einen kleinen Spiralblock heraus. Dann nahm er einen Kuli von der Mittelkonsole, befeuchtete sich den Daumen und blätterte Seiten um. Nachdem er kurz einiges überflogen hatte, schaute er mich an.
»Zurzeit konzentrier ich mich auf diesen Job mit Ryan. Und verstehen Sie mich nicht falsch, vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Zeugen verlassen die Stadt, sterben.
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