Knochen zu Asche
Dasselbe gilt für Verwandte, Nachbarn, Freunde. Berichte verschwinden. Beweisstücke gehen verloren. Den Tatort können Sie vergessen, wenn Sie je einen hatten. Wenn Sie es schaffen, irgendwas ans Tageslicht zu fördern, wird kein Mensch gleich alles stehen und liegen lassen, nur um es zu bearbeiten. Kein Mensch rückt Geld für irgendwelche exotischen Tests raus.«
Jetzt kommt die Abfuhr, dachte ich.
»Wenn niemand Druck macht, passiert nichts. Und genau das mache ich. Druck.«
Ich wollte etwas sagen, aber Hippo war noch nicht fertig.
»Wenn Sie glauben, daß irgendjemand dieser Évangéline was angetan hat, dann reicht mir das. Wenn Sie sogar glauben, dass das ihr Skelett sein könnte, dann reicht mir das ebenfalls. Und auch wenn nicht, irgendjemands Kind ist es auf jeden Fall.«
Hippo senkte den Blick wieder auf seinen Spiralblock. Er blätterte wieder, schrieb etwas, riss dann das Blatt heraus und gab es mir.
»Die Sache ist alles andere als tot.Wir haben Hinweise.«
Ich las, was Hippo geschrieben hatte. Die Namen Patrick und Archie Whalen, eine Adresse in Miramichi, eine Telefonnummer mit einer 506-Vorwahl.
»Tiquets Graffitikünstler?«, fragte ich.
»Offensichtlich ist das Genre nicht gerade ein Karrieresprungbrett. Die Trantüten sind jetzt Ende zwanzig und leben immer
noch bei ihren Eltern. Rufen Sie sie mal an. Ich schätze, dass sie bei Ihnen gesprächiger sein werden.«
Weil ich eine Frau bin? Englisch spreche? Weil ich Zivilistin bin? Hippos Motive waren unwichtig. Ich konnte es kaum erwarten, an ein Telefon zu kommen.
»Ich rufe an, sobald ich zu Hause bin.«
»Inzwischen kümmere ich mich um dieses Mädchen und seine Familie. So viele Évangélines und Obélines werden auf diesem Planeten ja nicht rumlaufen.«
»Wohl kaum«, stimmte ich zu.
Es war fast acht, als ich meine Wohnung erreichte. Ich hätte ganz Vermont verdrücken können und immer noch Platz für eine Nachspeise gehabt.
Birdie empfing mich an der Tür. Er schnupperte nur einmal und verzog sich unter die Couch. Ich verstand den Hinweis. Während ich mich im Bad auszog, hörte ich Charlies Machopfiffe über den Gang hallen.
»Das netteste Kompliment, das ich den ganzen Tag gehört habe, Charlie.«
»Strokin’!«
»Das einzige Kompliment, das ich den ganzen Tag bekommen habe.«
Charlie pfiff.
Ich fing an, etwas zu antworten.
Es ist ein Papagei, Brennan.
Nach einer langen Dusche hörte ich den Anrufbeantworter ab.
Vier Nachrichten. Harry. Ein Anrufer, der aufgehängt hatte. Harry. Harry.
Die Kühltruhe bot zwei Sachen zur Auswahl. Miguel’s Mexican Flag Fiesta. Mrs. Farmers Country Chicken Pot Pie. Ich entschied mich für den Hühner-Pie. Den halben Tag hatte ich schließlich auf einer Farm verbracht.
Während mein gefrorenes Mahl buk, wählte ich die Nummer, die Hippo mir gegeben hatte.
Keine Antwort.
Ich rief Harry an. Drei Minuten später hatte ich Folgendes erfahren.
Scheidungsanwälte gibt es in Houston wie Sand am Meer. Scheidungen kosten eine Stange Geld. Arnoldo hatte nicht gerade die besten Karten. Der Mann musste sich auf einiges gefasst machen.
Nachdem ich aufgelegt hatte, aß ich meinen Pie und versuchte es dann noch einmal bei den Whalen-Brüdern.
Noch immer keine Antwort.
Enttäuscht schaltete ich die Nachrichten ein.
Auf der Metropolitan hatte es eine Massenkarambolage gegeben, ein Toter, vierVerletzte. Ein Richter war wegen Geldwäsche angeklagt worden. Gesundheitsbeamte waren besorgt wegen einer Bakterienplage am Strand der Île Sainte-Hélène. Die Polizei hatte in Bezug auf Phoebe Jane Quincys Verschwinden noch nichts Neues in Erfahrung gebracht.
Die guten Nachrichten hatten mit dem Wetter zu tun. Regen war unterwegs und mit ihm kühlere Temperaturen.
Ziemlich mutlos schaltete ich den Fernseher aus und schaute auf die Uhr. Zwanzig nach zehn.Was soll’s? Ich wählte ein letztes Mal die Nummer der Whalens.
»Wassis?« Englisch.
»Mr. Whalen?«
»Kann sein.«
»Spreche ich mit Archie Whalen?«
»Nein.«
»Patrick?«
»Wer will das wissen?«
»Dr. Temperance Brennan. Ich bin Anthropologin beim gerichtsmedizinischen Institut in Montreal.«
»Aha.« Argwöhnisch? Beschränkt? Ich war mir nicht sicher.
»Spreche ich mit Patrick Whalen?«
»Kommt drauf an, was Sie zu verkaufen haben.«
»Vor ungefähr fünf oder sechs Jahren haben Sie und Ihr Bruder in einem Pfandhaus in Miramichi ein Skelett erworben. Ist das korrekt?«
»Woher haben Sie diese Nummer?«
»Von einem
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