Knochen zu Asche
und wackelte mit den Fingern im Sinne von »Jetzt reden Sie schon«.
»Die nordöstliche Küste von New Brunswick.«
»Akadien?«
»Tief im Herzen.«
Ich lauschte dem Wummern der Reifen auf dem Asphalt. Vor der Windschutzscheibe verschleierte eine Smogschicht den Sonnenuntergang, der die Stadt in einen weichen, goldenen Schein tauchte.
Miramichi? Ich hatte den Namen schon einmal gehört. In welchem Kontext?
Plötzlich fiel es mir wieder ein.
11
In dem Sommer, als ich zehn und Évangéline zwölf war, erzählte sie von einem Ereignis, das im Dezember davor passiert war. Der Vorfall hatte sie so beunruhigt, dass sie in ihren Briefen nichts davon hatte schreiben können.
Nachdem sie Obéline in die Obhut einer Nachbarin gegeben hatte, war Évangélines Mutter in eine Nachbarstadt gefahren, um Lebensmittel einzukaufen. Das war ungewöhnlich, weil Laurette normalerweise in Tracadie einkaufte. Nach Verlassen des Supermarkts hatte sie ihrer Tochter aufgetragen, zu ihrem alten Ford zurückzukehren und dort auf sie zu warten.
Doch Évangéline war neugierig, wartete deshalb, bis ihre Mutter um die Ecke verschwunden war, und folgte ihr dann. Laurette betrat ein Leihhaus. Durchs Fenster sah sie ihre Mutter
in erregtem Gespräch mit einem Mann.Verängstigt lief Évangéline zum Auto zurück.
Laurette besaß ein einziges Schmuckstück, einen Saphirring mit winzigen, weißen Diamanten. Obwohl Évangéline nichts von der Geschichte des Rings wusste, hatte sie ihre Mutter noch nie ohne ihn gesehen. Als Laurette sich an diesem Tag hinters Steuer setzte, war der Ring verschwunden. Évangéline sah ihn nie wieder.
Unsere kindliche Fantasie beschwor Geschichten über gebrochene Herzen und verlorene Liebe herauf. Ein gut aussehender Verlobter, der im Krieg getötet worden war. Eine Familienfehde wie die der Capulets und Montagues, nur eben in Akadien.Wir schrieben Verse, die sich auf den Namen der Stadt reimten. Peachy. Beachy. Lychee.
Und so kam ich drauf.
Évangéline und ihre Mutter waren nach Miramichi gefahren.
Kam Hippos Mädchen aus Miramichi?
»Wie weit ist Miramichi von Tracadie entfernt?« Noch mehr verrückte Möglichkeiten schossen mir durch den Kopf.
»Ungefähr fünfundsechzig Meilen.«
Unmöglich. Es gab keinen Grund für die Befürchtung, dass Évangéline nicht mehr am Leben war.
»Immer den Highway 11 runter.«
Und trotzdem? Hippo um eine Überprüfung der Vermisstenlisten bitten? Unrealistisch. Sie konnte einen anderen Namen angenommen haben, jetzt ganz woanders leben.
Ich atmete tief durch und erzählte Hippo die Geschichte von Évangéline Landry. Als ich fertig war, schwieg er so lange, dass ich schon dachte, er sei gar nicht mehr bei der Sache. Doch so war es nicht.
»Glauben Sie wirklich, dass diesem Mädchen was passiert ist?«
Diese Frage hatte mich im Lauf der Jahre immer wieder gequält.
Hatten Onkel Fidèle und Tante Euphémie, weil sie keine Lust mehr hatten, sich um ihre beiden jungen Nichten zu kümmern, sie einfach nach Hause geschickt? Oder war es andersherum gewesen? War Évangéline das Lowcountry langweilig geworden? Oder meine Freundschaft? War meine sommerliche Seelenfreundin einfach schneller erwachsen geworden als ich? Ich glaubte es nicht. Sie hätte mir gesagt, dass sie wegging. Und warum Tante Euphémies Bemerkung über Gefahr?
»Ja«, sagte ich. »Das glaube ich.«
Wie fuhren eben auf die Insel. Ich sah, wie Hippos Blick seitwärts zum angeschwollenen Wasser der Rivière de Prairies glitt. Ich fragte mich, ob er an das Mädchen dachte, das sich neunundneunzig im Rivière des Mille Îles in einem Bootspropeller verfangen hatte, Ryans Tote Nummer eins. Oder das Mädchen, das zweitausendeins in Dorval ans Ufer gespült wurde, Ryans Tote Nummer zwei. Oder dasjenige, das man letzte Woche im Lac des Deux Montagnes gefunden hatte, vielleicht Tote Nummer drei in dieser Reihe.
»Sie sagen, das Skelett war gemischtrassig«, begann Hippo. »Was war Ihre Freundin?«
»Das ist nur mein erster Eindruck. Ich hatte noch keine Zeit, das Skelett vollständig zu säubern. In der Hinsicht habe ich mir über Évangéline noch keine Gedanken gemacht. Ich hielt sie einfach immer für exotisch auf eine geheimnisvolle Art.«
Hippo ließ sich eine Weile Zeit zum Nachdenken.
»Sie haben mir gesagt, die Knochen sind ziemlich ramponiert. Kommt ein PMI infrage, das an die vierzig Jahre kratzt?«
Über das postmortale Intervall hatte ich schon sehr eingehend nachgedacht. »Ich bin mir sicher,
Weitere Kostenlose Bücher