Knochen zu Asche
hätte.
»Und du bist dir ganz sicher?«
»Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie so wenig sicher. Aber eins weiß ich ganz genau: Ich bin es meiner Tochter schuldig, es zu versuchen. Ich kann nicht untätig zusehen, wie sie ihr Leben zerstört.«
Ich brauchte frische Luft.
Ich bot ihm weder Trost noch Hilfe an. Keinen Streisand-Witz. Keine Umarmung.
Ich presste mir ein Lächeln ab, stand auf und verließ das Restaurant.
Ich fühlte mich bleiern, die samstagabendlichen Flaneure, mit denen ich den Bürgersteig teilte, huschten wie Schemen an mir vorüber. Meine Füße hoben und senkten sich, ich bewegte mich ohne jedes Gefühl. Plötzlich hielten sie an.
Ich hob den Kopf.
Hurley’s.
Es war nicht frische Luft, was ich brauchte. Ich war wieder dort, wo ich eigentlich nie mehr hinwollte. Der rubinrote Schein in langstieligen Gläsern, das Kratzen im Hals, die Hitze im Bauch. Der Schnellzug zu kurzfristigem Glück und Wohlbefinden.
Ich musste nur hineingehen und bestellen.
Aber ich kenne mich. Ich bin Alkoholikerin. Es wäre kein kurzer Flirt mit dem Stoff. Und unweigerlich würde die Euphorie der Selbstverachtung Platz machen. Stunden, vielleicht Tage wären aus meinem Leben ausradiert.
Ich machte kehrt und fuhr nach Hause.
Als ich im Bett lag, fühlte ich mich völlig allein im Universum.
Meine Gedanken wiegten sich in einem Totentanz.
Dorothée und Geneviève Doucet, vergessen in einem Schlafzimmer im Obergeschoss.
Kelly Sicard, Claudine Cloquet, Anne Girardin, Phoebe Jane Quincy, verschwunden, vielleicht misshandelt und ermordet.
Drei junge Leichen, zwei davon grotesk aufgebläht.
Laurette, verlassen, tot mit vierunddreißig.
Meine eigene Mutter, verwitwet, neurotisch, tot mit siebenundfünfzig.
Der kleine Kevin, tot mit drei Jahren.
Das Skelett eines jungen Mädchens, aus ihrem Grab gerissen.
Obéline, geschlagen und entstellt.
Évangéline, verschwunden.
Ryan, verschwunden.
In diesem Augenblick hasste ich meine Arbeit. Ich hasste mein Leben.
Die ganze Welt war schlecht.
Es gab keine Tränen. Nur eine überwältigende Taubheit.
15
Ich wachte auf, weil das Telefon klingelte. Ich fühlte mich träge und schlapp und wusste nicht, warum. Dann fiel es mir wieder ein.
Ryan.
Die Taubheit der letzten Nacht meldete sich wieder. Das war gut. Sie brachte mich durch den Anruf.
»Guten Morgen, Zuckerschnäuzchen.«
Pete hatte mich in Montreal noch nie angerufen.
Katy! Ich schnellte in die Höhe.
»Was ist los?«
»Nichts ist los.«
»Mit Katy alles in Ordnung?«
»Natürlich ist alles in Ordnung mit ihr.«
»Hast du mit ihr gesprochen? Wann?«
»Gestern.«
»Was hat sie gesagt?«
»Buenos días. Chile ist der Hammer. Schick mir Geld. Adiós.«
Ich lehnte mich zurück und zog die Decke bis zum Kinn hoch.
»Wie geht’s dir?«
»Blendend.«
»Wo bist du?«
»Charlotte. Ich muss dir was sagen.«
»Du bist mit Paris Hilton verlobt.« Ich war so erleichtert über die guten Nachrichten von Katy, dass ich über meinen eigenen Witz lachte. Es tat gut.
Pete antwortete nicht.
»Hallo?«
»Ich bin da.« Ohne jeden Humor.
Schlimme Vorahnungen zerrten an meinen bereits strapazierten Nerven.
»Pete.«
»Nicht Paris. Summer.«
»Du willst heiraten?« Ich konnte nicht verbergen, wie schockiert ich war.
»Du wirst sie mögen, Zuckerschnäuzchen.«
Ich werde sie hassen.
»Wo habt ihr euch kennengelernt?« Ich versuchte, fröhlich zu klingen.
»Im Selwyn Pub. Sie sah traurig aus. Ich spendierte ihr ein Bier. Wie sich zeigte, war an diesem Tag ein Hündchen eingeschläfert worden. Sie ist Tierarzthelferin.«
»Wie lange bist du mit Summer schon zusammen?«
»Seit März.«
»Mein Gott, Pete.«
»Sie ist sehr intelligent, Tempe. Sie will Tiermedizin studieren. «
Natürlich will sie das.
»Wie alt ist Summer?«
»Neunundzwanzig.«
Pete würde sich demnächst von den Fünfzigern verabschieden.
»Drei Monate sind aber nicht sehr lange.«
»Summer will Nägel mit Köpfen machen.« Pete lachte. »Was soll’s? Ich bin ein alter Junggeselle, der sich allein durchs Leben wurstelt.Vergiss nicht. Du hast mich rausgeworfen, Babe.«
Ich schluckte. »Was soll ich tun?«
»Nichts. Ich erledige den Gerichtskram. Unüberbrückbare Differenzen. Wir müssen uns nur über die Aufteilung des gemeinsamen Besitzes einig werden. Das tatsächliche Aufteilen können wir dann später erledigen.«
»Viel gibt’s da eh nicht mehr aufzuteilen.«
»In North Carolina gilt das Verschuldensprinzip
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