Knochen zu Asche
um zehn null sieben gelandet.
Um elf wurde ich langsam unruhig. Ich versuchte zu lesen, aber mein Blick wanderte immer wieder hoch zu der Flut vorbeiziehender Gesichter.
Um elf fünfzehn fing ich an, mir eine Liste möglicher Komplikationen zu überlegen.
Kein Pass. Vielleicht wusste Harry nicht, dass ein Personalausweis nicht mehr ausreichte, um mit dem Flugzeug nach Kanada einzureisen.
Fehlendes Gepäck.Vielleicht füllte Harry Formulare in dreifacher bis fünffacher Ausfertigung aus.Von früheren Besuchen wusste ich, dass sie nicht mit leichtem Gepäck reiste.
Schmuggeln.Vielleicht klimperte Harry vor einem versteinert dreinblickenden Zollbeamten mit den Wimpern. Ja. Das passte.
Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Jasper-Fforde-Roman.
Der Mann neben mir war fleischig, hatte drahtige Haare und quoll aus einem Polyester-Sportsakko, das einige Nummern zu klein für ihn war. Er wippte beständig mit einem Knie und klopfte mit seiner Bordkarte auf die Armlehne zwischen uns.
Montreal ist nicht Toronto. Im Gegensatz zu seinem faden, Englisch sprechenden Nachbarn im Westen feiert die Inselstadt die Geschlechtsunterschiede und den Sex. In Bars und Bistros prickelt die Pheromon-Party bis in die frühen Morgenstunden. Reklametafeln preisen Veranstaltungen mit schlüpfrigen Doppeldeutigkeiten an. An den Highways werben halbnackte Models für Bier, Gesichtscremes, Uhren und Jeans. Heißes Blut und Schweiß pulsieren in der Stadt.
Aber auf meine Schwester ist Big Easy North nie vorbereitet.
Als Drahthaar erstarrte, wusste ich, dass Harry angekommen war. Sie tat es mit ihrer gewohnten Extravaganz, aufrecht stand sie in dem Transportkarren, die Arme ausgebreitet wie Kate Winslet im Bug der Titanic . Der Fahrer lachte und zerrte an ihrem Hosenbund, um ihren Hintern wieder auf dem Sitz zu platzieren.
Der Karren bremste, und Harry sprang heraus. In Jeans, die so eng waren, dass man sie für Haut hätte halten können, rosé-und türkisfarbenen Stiefeln und einem pinkfarbenen Stetson.
Als sie mich entdeckte, riss sie sich den Hut vom Kopf und winkte damit. Blonde Locken fielen ihr bis auf die Taille.
Ich stand auf.
Drahthaar hinter mir blieb erstarrt. Ich wusste, dass andere in dieselbe Richtung starrten. Andere mit einem Y in jeder Zelle.
Harry kam auf mich zugelaufen. Der Fahrer folgte ihr, ein Sherpa mit Neiman-Marcus und Louis Vuitton auf dem Rücken.
»Tem-pee-roo-nee!«
»Ich habe mich schon gefragt, ob du dich vielleicht verirrt hast.« Aus der Enge einer rückgratzertrümmernden Umarmung hervorgepresst.
Harry ließ mich los und legte den Arm um den Sherpa. »Wir haben parlai-vuut, nicht, Piie-air?«
Pierre lächelte völlig ratlos.
Wie inszeniert verkündete nun eine Stimme aus dem Lautsprecher, dass unsere Maschine zum Einsteigen bereitstehe.
Der Sherpa fasste zwei Bordcases auf einmal mit einer Hand und gab sie ihr zusammen mit einer Schultertasche von der Größe einer Satteltasche. Die Neiman-Marcus hielt er mir hin. Ich nahm sie.
Harry gab dem Sherpa einen Zwanziger, ein strahlendes Lächeln und ein dickes »Mär-cie«.
Pierre sauste davon, ein Mann mit einer Geschichte.
In Moncton war der Leihwagen, den ich am Flughafen gebucht hatte, aus irgendeinem Grund nicht verfügbar. Man bot mir zum selben Preis ein größeres Modell an.
Was für ein Modell?
Geräumig. Es wird Ihnen gefallen.
Habe ich eine andere Wahl?
Nein.
Während ich den Vertrag ausfüllte, erfuhr Harry das Folgende.
Der Mann am Schalter hieß George. Er war dreiundvierzig, geschieden, und hatte einen zehnjährigen Sohn, der noch immer ins Bett machte. Nach Tracadie kam man, indem man einfach nur den Highway 11 hochfuhr. Billiges Benzin gab es bei der Irving-Tankstelle knapp hinter Kouchibouguac. Im Le Coin du pêcheur in Escuminac gab es gemein gute Hummerbrötchen. Die Fahrt würde ungefähr zwei Stunden dauern.
Das geräumigere Modell erwies sich als glänzender, neuer Cadillac Escalade EXT. Schwarz. Harry war hin und weg.
»Jetzt schau dir diesen Wahnsinnskarren an. Super Motor. Vierradantrieb und Anhängerkupplung. Mit diesem Eisenpony können wir bergauf, bergab und querfeldein fahren.«
»Danke, aber ich bleibe lieber auf der Straße.Will mich nicht verfahren.«
»Werden wir auch nicht.« Harry klopfte sich auf die Handtasche. »Ich habe GPS auf meinem Handy!«
Wir stiegen ein. Das Eisenpony roch nach neuem Auto und hatte gerade mal fünfundvierzig Meilen auf dem Tacho. Ich kam mir vor, als würde ich einen
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