Knochen zu Asche
Hand in Hand. Und Hand in Hand. Der Kontaktbogen trug das Datum 24. Juli 1984.
Wo war ich im Sommer 1984? Chicago. Mit Pete verheiratet. Schwanger mit Katy. Mitten in der Promotion an der Northwestern. Im folgenden Jahr wechselte Pete in eine andere Anwaltskanzlei, und wir zogen nach Charlotte. Nach Hause. Ich bekam eine Anstellung an der UNCC.
Mein Blick wanderte zu der Doppelreihe grauer Aktenschränke. Ich fühlte mich überwältigt. Nicht nur von dem Gedanken, dieses immense Reservoir menschlicher Geschichten noch durchsuchen zu müssen, sondern von allem. Die toten und vermissten Mädchen. Das Skelett, das ich Hippos Mädchen nannte. Évangéline und Obéline. Pete und Summer. Ryan und Lutetia.
Vor allem Ryan und Lutetia.
Vergiss es, Brennan. Ihr wart Kollegen, bevor ihr ein Paar wart. Ihr seid immer noch Kollegen. Er braucht dein Fachwissen. Wenn jemand diesen Mädchen mit Absicht etwas angetan hat, dann ist es deine Aufgabe, bei der Ergreifung dieses Mistkerls mitzuhelfen. Kein Mensch interessiert sich für dein Privatleben.
Ich öffnete den nächsten Aktenordner.
20
Auf dem Etikett stand der Name Kitty Stanley.
Kitty Stanley schaute direkt in die Kamera, blaue Augen unter unmöglich langen Wimpern, bernsteinfarbene Locken unter einem schwarzen Hut, den sie sich tief in die Stirn gezogen hatte.
Auf einigen Fotos saß sie rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf der Rückenlehne, den Kopf darauf gestützt. Auf anderen lag sie auf dem Bauch, das Kinn auf den verschränkten Fingern, die Füße erhoben und an den Knöcheln gekreuzt. Einige andere zeigten Großaufnahmen des Gesichts.
Die Intensität. Die dichten geraden Augenbrauen.
Adrenalin schoss mir ins System, als ich einen Beweismittelbeutel öffnete, ein Foto aussuchte und es neben Cormiers Kontaktbogen hielt. Die einzelnen Bilder auf dem Bogen waren so klein, dass ein Vergleich ziemlich schwierig war.
Ich legte alles weg, was ich auf dem Schoß hatte, entdeckte auf einem Aktenschrank eine Handlupe und verglich die Gesichter unter Vergrößerung.
Kelly Sicard. Ryans Vermisste Nummer eins. Das Mädchen hatte bei seinen Eltern in Rosemère gelebt und war 1997 nach einer abendlichen Kneipentour mit Freunden verschwunden.
Kitty Stanley.
Kelly Sicard.
Beide hatten blaue Augen, bernsteinfarbene Locken und Augenbrauen wie Brooke Shields.
Kelly Sicard war achtzehn, als sie verschwand. Kitty Stanley sah aus wie etwa sechzehn.
Ich drehte den Kontaktbogen um. Kein Datum.
Kelly Sicard.
Kitty Stanley.
Hin und her. Hin und her.
Nachdem ich die Bilder sehr lange studiert hatte, war ich überzeugt. Obwohl Beleuchtung und Brennweiten unterschiedlich waren, hatten beide Mädchen die gleichen hohen Wangenknochen, den gleichen schmalen Abstand zwischen den Augenhöhlen, die gleiche lange Oberlippe, den gleichen breiten Unterkiefer und das gleiche spitz zulaufende Kinn. Ich brauchte weder Messzirkel noch ein Computerprogramm. Kitty Stanley und Kelly Sicard waren ein und dasselbe Mädchen.
Sicard sah so jung aus. Ich wollte mit meiner Stimme das Zelluloid durchdringen und mit ihr sprechen. Sie fragen, warum sie in dieses schreckliche Studio gekommen war, um für diesen Mann zu posieren. Sie fragen, was nach diesem Tag passiert war. War sie nach New York gegangen, um einen Traum zu verfolgen? War sie ermordet worden?
Und warum der falsche Name? Hatte Sicard Cormier engagiert, ohne es ihren Eltern zu sagen? Hatte sie nicht nur einen falschen Namen, sondern auch ein falsches Alter angegeben?
»Ich habe Sicard.« Es kam mit tödlicher Ruhe aus meinem Mund.
Hippo sprang auf und war in drei Schritten bei mir. Ich gab ihm die Lupe, das Foto und den Kontaktbogen.
Hippo starrte die Bilder an. Er brauchte wirklich eine Dusche.
»Crétaque!« Und über die Schulter: »Ryan. Hierher.«
Ryan war sofort da. Hippo gab ihm Lupe und Fotos.
Ryan betrachtete die Bilder. Auch er hatte Seife und Wasser nötig.
»Das Sicard-Mädchen?« An mich gerichtet.
Ich nickte.
»Bist du sicher?«
»Bin ich.«
Ryan griff nach seinem Handy und wählte. Ich hörte eine weit entfernte Stimme. Ryan fragte nach einer Frau, von der ich wusste, dass sie Staatsanwältin war. Eine Pause entstand, dann meldete sich eine andere Stimme.
Ryan nannte seinen Namen und kam dann direkt zur Sache.
»Cormier hat Kelly Sicard fotografiert.«
Die Stimme sagte etwas.
»Kein Datum. Sieht aus, als wäre es ein, vielleicht zwei Jahre vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden.«
Die Stimme sagte
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