Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
herzustellen. Einen Augenblick später klingelte das Telefon, und ich hob ab.
Der Pathologe hatte offenbar getan, was er konnte. Er berichtete, er habe feststellen können, welches Geschlecht die untere Leiche hatte und daß sie vermutlich der weißen Rasse zuzurechnen sei. Seines Erachtens sei das Opfer an Schnittwunden gestorben, für eine genaue Feststellung sei die Leiche jedoch zu stark verwest.
Das Grab sei so flach gewesen, daß Insekten an die Leiche gelangt waren, wobei sie wahrscheinlich die darüberliegende als Durchgang benutzt hatten. Die offenen Wunden hätten die Besiedelung ebenfalls begünstigt. Schädel und Brust hätten die größte Anhäufung von Maden enthalten, die er je gesehen habe. Das Gesicht sei nicht mehr zu erkennen, und er könne auch keine Altersangabe machen. Aber er glaube, verwertbare Fingerabdrücke zu haben.
Im Hintergrund hörte ich Ryan und Baker über Dom Owens sprechen.
Hardaway fuhr fort. Der Oberkörper sei größtenteils skelettiert, allerdings seien noch Reste des Bindegewebes erhalten. Er könne wenig damit anfangen und bitte mich deshalb um eine vollständige Analyse.
Ich wies ihn an, mir den Schädel, die Hüftknochen, die Schlüsselbeine und die vorderen Enden der dritten bis fünften Rippen zu schicken. Von der oberen Leiche brauchte ich das vollständige Skelett. Außerdem bat ich ihn um Röntgenaufnahmen von jedem Opfer, eine Kopie seines Berichts und einen vollständigen Satz Autopsiefotos.
Schließlich erklärte ich ihm, wie er die Knochen behandeln sollte. Hardaway war vertraut mit der Vorgehensweise und versprach, sowohl die Überreste als auch die Unterlagen bis Freitag in mein Labor zu schicken.
Ich legte auf und sah auf die Uhr. Wenn ich je vor meiner Reise nach Oakland fertig werden wollte, mußte ich mich jetzt auf den Weg machen.
Ryan und ich überquerten den Parkplatz zu meinem Auto, das ich am Morgen dort abgestellt hatte. Die Sonne schien heiß, und der Schatten tat gut. Ich öffnete die Tür und stützte den Arm auf den Rahmen.
»Wie wär’s mit Abendessen?« fragte Ryan.
»Klar. Und dann ziehe ich mir ein Negligé an, und wir machen Fotos für die New York Times.«
»Brennan, seit zwei Tagen behandeln Sie mich wie den letzten Dreck. Und wenn ich es mir genau überlege, haben Sie schon seit Wochen was gegen mich. Na schön. Ich kann damit leben.«
Er nahm mein Kinn in die Hand und sah mir direkt in die Augen.
»Aber ich will, daß Sie eins wissen. Das gestern abend waren nicht nur die Hormone. Ich mag Sie sehr gern, und ich habe es sehr genossen. Es tut mir nicht leid, daß es passiert ist. Und ich kann nicht versprechen, daß ich es nicht wieder versuchen werde. Aber denken Sie daran, ich bin vielleicht der Wind, aber Sie sind diejenige, die den Drachen lenkt. Fahren Sie vorsichtig.«
Damit ließ er mein Kinn los und ging zu seinem Auto. Er schloß die Tür auf, warf sein Jackett auf den Beifahrersitz und drehte sich dann noch einmal zu nur um.
»Übrigens, Sie haben mir nie gesagt, warum Sie nicht glauben, daß die Opfer auf Murtry Dealer waren.«
Im ersten Augenblick konnte ich ihn nur anstarren. Ich wäre so gern geblieben, aber ich wollte auch Kontinente von ihm entfernt sein. Dann riß ich mich zusammen.
»Was?«
»Die Leichen von der Insel. Warum bezweifeln Sie die Drogentheorie?«
»Weil beide Mädchen waren.«
21
Auf der Fahrt spielte ich einige Kassetten, aber auch der schönste Schmachtfetzen konnte mich nicht fesseln. Ich hatte eine Million Fragen und kaum Antworten. War Anna Goyette wieder nach Hause zurückgekehrt? Wer waren die Frauen, die man auf Murtry Island verscharrt hatte? Was würden ihre Knochen mir verraten? Wer hatte Heidi und ihre Babys ermordet? Gab es eine Verbindung zwischen St. Jovite und der Kommune auf St. Helena? Wer war Dom Owens? Wohin war Kathryn verschwunden? Und wo zum Teufel war Harry?
Im Geiste ging ich durch, was ich alles zu tun hatte. Und was ich tun wollte. Seit der Abreise aus Montreal hatte ich keine Zeile über Élisabeth Nicolet gelesen.
Um halb neun war ich wieder in Charlotte. In meiner Abwesenheit hatten die Ländereien von Carol Hall ihr festliches Frühlingsgewand angezogen. Azaleen und Hartriegel waren voll erblüht, und auch einige Bradford-Birnen und Holzäpfel hatten noch Blüten. Die Luft roch nach Kiefernnadeln und Rindenschnipseln. Meine Ankunft im Annex war eine Wiederholung der Woche zuvor. Die Uhr tickte. Der Anrufbeantworter blinkte. Der Kühlschrank war
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