Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
ihn kurz ab und wartete dann wieder, kalte, dunkle Angst im Leib.
Rohypnol.
Gletscher bildeten sich. Meeresspiegel hoben und senkten sich. Irgendwo buk ein Stern Planeten aus Staub.
Elf Minuten später rief Ryan an.
»Ich glaube, sie hängen zusammen.«
»Wer?«
Immer mit der Ruhe. Laß dir von dem Schock nicht die Gedanken vernebeln.
»Die Toten auf Murtry Island und die in St. Jovite.«
Ich berichtete ihm von meinem Gespräch mit Lou West.
»Eine der Frauen auf Murtry hatte eine massive Dosis Rohypnol in ihrem Gewebe.«
»Wie die Leichen im oberen Schlafzimmer in St. Jovite.«
»Ja.«
Eine zweite Erinnerung war plötzlich an die Oberfläche gestiegen, als Lou den Namen der Droge nannte.
Ein alpiner Wald. Luftaufnahmen eines schwelenden Chalets. Eine Wiese, darauf ein Kreis aus verhüllten Leichen. Uniformierte. Bahren. Krankenwagen.
»Können Sie sich noch an den Orden des Sonnentempels erinnern?«
»Diese grün angehauchten Endzeitspinner, die sich letzten Herbst umgebracht haben?«
»Ja. Achtundvierzig Tote in Europa. Fünf in Quebec.«
Meine Stimme drohte mir zu versagen.
»Die Chalets in der Schweiz und das Haus in Morin Heights waren so präpariert, daß sie in die Luft gehen und niederbrennen mußten.«
»Ja. Daran habe ich auch eben gedacht.«
»An beiden Orten wurde Rohypnol gefunden. Viele der Opfer hatten die Droge kurz vor ihrem Tod eingenommen.«
Pause.
»Glauben Sie, daß Owens den Tempel wiederauferstehen lassen will?«
»Ich weiß es nicht.«
»Glauben Sie, daß sie dealen?«
Was dealen? Menschenleben?
»Ich schätze, das ist eine Möglichkeit.«
Einige Sekunden lang sagte keiner etwas.
»Ich lege das mal den Jungs vor, die Morin Heights bearbeitet haben. Und diesem Dom Owens mache ich die Hölle heiß.«
»Da ist noch mehr.«
Es summte leise in der Leitung.
»Hören Sie noch zu?«
»Ja.«
»West schätzt, daß die Frauen vor drei bis vier Wochen starben.«
Mein Atem klang laut im Hörer.
»Das Feuer in St. Jovite war am 10. März. Heute ist der 1. April.«
Ich lauschte dem Summen, während Ryan nachrechnete.
»Verdammt. Ungefähr drei Wochen.«
»Ich habe das Gefühl, daß etwas ganz Schreckliches bevorsteht, Ryan.«
»Da könnten Sie recht haben.« Er legte auf.
Rückblickend habe ich immer den Eindruck, daß die Ereignisse sich nach dieser Unterhaltung zuspitzten, sich überstürzten und schließlich einen Strudel bildeten, der alles in sich hineinsaugte. Mich eingeschlossen.
An diesem Abend arbeitete ich lange. Hardaway ebenfalls. Er rief mich an, als ich eben seinen Autopsiebericht aus dem Umschlag zog.
Ich skizzierte kurz, was ich über die obere Leiche herausgefunden hatte, und nannte ihm meine Altersschätzung für die untere.
»Das paßt«, sagte er. »Sie war fünfundzwanzig.«
»Haben Sie sie identifizieren können?«
»Wir konnten ihr einen verwertbaren Fingerabdruck abnehmen. Keine Entsprechungen in den örtlichen und bundesstaatlichen Dateien, also haben wir den Abdruck ans FBI geschickt. Aber die hatten auch nichts in ihrem Computer.
Ist schon eine verrückte Geschichte. Weiß auch nicht, warum ich es getan habe, vielleicht weil ich weiß, daß Sie da oben arbeiten. Aber als der FBI-Typ meinte, wir sollten es bei den Kanadiern probieren, dachte ich mir, verdammt, warum eigentlich nicht? Wär doch ‘n Ding, wenn sie sich als Kanadierin erweist.«
»Was haben Sie sonst noch über sie herausgefunden?«
»Moment mal.«
Ich hörte das Ächzen von Sprungfedern und das Rascheln von Papier.
»Ich habe das Fax erst heute nachmittag bekommen. Der Name ist Jennifer Cannon. Geboren 1970. Weiß. Eins dreiundsechzig groß, 60 Kilo schwer. Braune Haare. Grüne Augen. Alleinstehend. Zum letzten Mal lebendig gesehen… Moment… vor zwei Jahren und drei Monaten.«
»Woher stammt sie?«
»Mal sehen.« Eine Pause. »Calgary. Wo ist das?«
»Im Westen. Wer hat sie als vermißt gemeldet?«
»Sylvia Cannon. Es ist eine Adresse in Calgary, es dürfte also die Mutter sein.«
Ich gab Hardaway Ryans Pager-Nummer und bat ihn, ihn anzurufen. »Wenn Sie mit ihm reden, dann sagen Sie ihm bitte, er soll mich anrufen. Wenn ich nicht mehr hier bin, bin ich zu Hause.«
Ich packte die Murtry-Knochen ein und schloß sie weg. Dann stopfte ich meine Diskette und die Fallformulare, Hardaways Autopsiebericht und -fotos und das CT-Paper in meine Aktentasche, sperrte das Labor ab und verließ das Gebäude.
Der Campus war verlassen, der Abend still und schwül. Für
Weitere Kostenlose Bücher