Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
aber Red Skyler hatte angerufen, um mir zu sagen, daß er sich mit dem Cult Awareness Network, einer Art Verein zur Beobachtung von Sekten, Kulten und ähnlichem, in Verbindung gesetzt hatte. Sie hatten nichts über Dom Owens, aber es gab eine Akte über Inner Life Empowerment. Nach CAN war es eine legale Organisation. ILE operierte in verschiedenen Staaten und bot Selbsterkenntnis-Seminare an, die zwar sinnlos, aber ungefährlich waren. Stelle dich dem Intimsten in dir und dem Intimsten in anderen. Unsinn, aber wahrscheinlich harmlos, und Red meinte, ich sollte mir keine zu großen Sorgen machen. Wenn ich noch mehr Informationen wollte, solle ich ihn oder CAN anrufen. Er hatte mir beide Nummern hinterlassen.
Die anderen Nachrichten rauschten an mir vorüber. Sam, der wissen wollte, was es Neues gab. Katy, die von ihrer Rückkehr nach Charlottesville berichtete.
ILE war also nicht gefährlich, und Ryan hatte wahrscheinlich recht. Harry war mal wieder auf Tour. Zorn rötete mir die Wangen.
Wie ein Roboter hängte ich meinen Mantel auf und rollte den Koffer ins Schlafzimmer. Dann setzte ich mich auf die Bettkante, massierte mir die Schläfen und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Die Zeiger auf meinem Wecker zählten langsam die Minuten.
Diese letzten Wochen waren die schwierigsten meiner Karriere gewesen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je so viele Tote in so kurzer Zeit gehabt hatte. Konnte es sein, daß es zwischen all diesen Opfern eine Verbindung gab? Hingen die Toten auf Murtry mit denen in St. Jovite zusammen? War Carole Comptois von demselben Monster getötet worden? War das Gemetzel in St. Jovite nur der Anfang gewesen? Plante in diesem Augenblick irgendein Wahnsinniger ein Blutbad, das jede Vorstellung sprengte?
Harry würde selbst zurechtkommen müssen.
Ich wußte jetzt, was ich tun würde. Zumindest wußte ich, wo ich anfangen würde.
Es regnete, und der McGill-Campus war mit einer dünnen Eiskruste überzogen. Die Gebäude ragten als schwarze Silhouetten in die Höhe, ihre Fenster waren das einzige Licht in der tristen, feuchten Dämmerung. Hier und dort bewegte sich eine Gestalt in einem erhellten Rechteck, eine winzige Puppe in einem Schattenspiel.
Poröses Eis knirschte unter meinen Schritten, als ich die Treppe zu Birks Hall hinaufstieg. Das Gebäude war leer, alle waren wegen des drohenden Unwetters schon nach Hause gegangen. Keine Regenmäntel an den Haken, keine Stiefel, die an den Wänden trieften. Die Drucker und Kopiermaschinen waren stumm, das einzige Geräusch war das Klicken von Regentropfen auf Bleiglas hoch über meinem Kopf.
Meine Schritte hallten, als ich die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg. Schon vom Hauptkorridor aus sah ich, daß Jeannottes Tür geschlossen war. Ich hatte nicht wirklich geglaubt, daß sie hiersein würde, aber einen Versuch war es mir wert gewesen. Sie erwartete mich nicht, und die Leute sagen die merkwürdigsten Dinge, wenn man sie aus der Routine reißt.
Als ich um die Ecke bog, sah ich gelbes Licht im Spalt unter der Tür. Ich klopfte, ohne zu wissen, was mich erwartete.
Als die Tür aufging, blieb mir vor Überraschung der Mund offenstehen.
30
Ihre Augen waren rot gerändert, ihre Haut blaß, die Wangen eingefallen. Sie erschrak, als sie mich sah, sagte aber nichts.
»Wie geht es Ihnen, Anna?«
»Okay.« Sie blinzelte, und ihre Wimpern brachten den Pony zum Schwingen.
»Ich bin Dr. Brennan. Wir haben uns vor ein paar Wochen kennengelernt.«
»Ich weiß.«
»Als ich dann wiederkam, hieß es, Sie wären krank.«
»Mir geht’s gut. Ich war nur ein paar Tage weg.«
»Ist Dr. Jeannotte hier?«
Anna schüttelte den Kopf. Sie schob sich abwesend und wie in Zeitlupe die Haare hinters Ohr.
»Ihre Mutter hat sich Sorgen um Sie gemacht.«
Sie zuckte die Achseln, eine schlaffe, kaum erkennbare Bewegung. Sie fragte nicht, woher ich über ihre Familie Bescheid wußte.
»Ich habe mit Ihrer Tante bei einem Projekt zusammengearbeitet. Sie war auch sehr besorgt.«
»Oh.« Sie hielt den Kopf gesenkt, deshalb konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen.
Sag es ihr auf den Kopf zu.
»Ihre Freundin meinte, Sie könnten in etwas verwickelt sein, das Ihnen Kummer bereitet.«
Sie hob den Kopf und sah mich an. »Ich habe keine Freundin. Von wem reden Sie?« Ihre Stimme war dünn und ausdruckslos.
»Sandy O’Reilly. Sie hatte Sie an diesem Tag vertreten.«
»Sandy will nur meine Stunden. Warum sind Sie hier?«
Gute Frage.
»Ich wollte mit Ihnen
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