Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
und Dr. Jeannotte reden.«
»Sie ist nicht hier.«
»Können wir beide uns unterhalten?«
»Es gibt nichts, was Sie für mich tun könnten. Mein Leben geht nur mich etwas an.« Ihre Teilnahmslosigkeit jagte mir einen Schauer über den Rücken.
»Das kann ich verstehen. Aber eigentlich hatte ich mir gedacht, daß Sie mir weiterhelfen könnten.«
Sie schaute den Korridor entlang und dann wieder mich an.
»Ich Ihnen helfen?«
»Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«
»Nein.«
»Können wir woanders hingehen?«
Sie sah mich lange an, mit einem matten, leeren Blick. Dann nickte sie, nahm einen Parka vom Garderobenständer und führte mich die Treppen hinunter und zu einer Hintertür hinaus. Tief gebückt gegen den Eisregen stapften wir den Hügel hoch ins Zentrum des Campus und gingen dann zur Rückseite des Redpath Museum. Anna zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß eine Tür auf und führte mich in einen düsteren Korridor. Die Luft roch schwach nach Moder und Verfall.
Wir stiegen in den ersten Stock und setzten uns auf eine Holzbank, umgeben von Skeletten längst ausgestorbener Kreaturen. Über uns hing ein Beluga-Wal, Opfer eines Unglücks im Pleistozän. Staubflusen wirbelten im Neonlicht.
»Ich arbeite zwar nicht mehr im Museum, aber ich komme immer noch hierher, um nachzudenken.« Sie starrte den Irischen Elch an. »Diese Tiere haben Millionen von Jahren und Tausende von Kilometern voneinander getrennt gelebt, und jetzt sitzen sie hier an diesem einen Punkt im Universum fest, fixiert auf alle Ewigkeit in Raum und Zeit. Mir gefällt das.«
»Ja.« Auch eine Möglichkeit, das Aussterben von Arten zu betrachten. »Stabilität ist in der heutigen Zeit etwas Seltenes.«
Sie sah mich merkwürdig an und wandte sich dann wieder den Skeletten zu. Ich musterte ihr Profil, während sie den Blick über die Sammlung schweifen ließ.
»Sandy hat von Ihnen erzählt, aber ich habe nicht richtig zugehört.« Sie redete, ohne sich mir zuzudrehen. »Ich weiß nicht so recht, wer Sie sind und was Sie wollen.«
»Ich bin eine gute Bekannte Ihrer Tante.«
»Meine Tante ist ein netter Mensch.«
»Ja. Ihre Mutter dachte, daß Sie vielleicht in Schwierigkeiten sind.«
Sie verzog das Gesicht zu einem gequälten Grinsen. Es war offensichtlich kein Thema, das sie froh machte.
»Was kümmert es Sie, was meine Mutter denkt?«
»Es kümmert mich, daß Schwester Julienne sich Sorgen macht wegen Ihres Verschwindens. Ihre Tante wußte nicht, daß Sie schon öfters abgehauen sind.«
Sie wandte sich von den Wirbeltieren ab und sah mich an. »Was wissen Sie sonst noch über mich?« Sie warf ihre Haare zurück. Vielleicht hatte die Kälte ihre Lebensgeister geweckt. Jedenfalls wirkte sie etwas lebhafter als zuvor in Birks Hall.
»Anna, Ihre Tante hatte mich angefleht, Sie zu suchen. Sie wollte sich nicht einmischen, sie wollte nur Ihre Mutter besänftigen.«
Sie sah verunsichert drein. »Da Sie mich offensichtlich zu Ihrem Lieblingsfall gemacht haben, sollten Sie auch wissen, daß meine Mutter verrückt ist. Wenn ich nur zehn Minuten zu spät komme, ruft sie die Bullen.«
»Nach Angaben der Polizei dauerten Ihre Abwesenheiten ein bißchen länger als zehn Minuten.«
Ihre Augen verengten sich leicht.
Gut, Brennan. Treib sie in die Enge.
»Hören Sie, Anna, ich will mich wirklich nicht einmischen. Aber wenn es irgend etwas gibt, das ich für Sie tun kann, bin ich mehr als bereit dazu.«
Ich wartete, aber sie erwiderte nichts.
Dreh es um. Vielleicht öffnet sie sich dann.
»Vielleicht können Sie mir helfen. Wie Sie wissen, arbeite ich für das Büro des Leichenbeschauers, und einige Fälle der letzten Zeit haben uns ziemlich verwirrt. Vor ein paar Jahren verschwand aus Montreal eine junge Frau namens Jennifer Cannon. Letzte Woche wurde ihre Leiche gefunden. Sie war Studentin an der McGill.«
Annas Gesichtsausdruck änderte sich nicht.
»Kannten Sie sie?«
Sie blieb so stumm wie die Knochen um uns herum.
»Am achtzehnten März wurde auf der Île des Soeurs eine Frau namens Carole Comptois ermordet aufgefunden. Sie war achtzehn.«
Sie fuhr sich mit der Hand an die Haare.
»Jennifer Cannon war nicht allein«, fuhr ich fort. Anna ließ die Hand sinken, hob sie dann wieder ans Ohr. »Wir haben die Person, die mit ihr vergraben wurde, noch nicht identifiziert.«
Ich zog die Kopie meiner Gesichtsrekonstruktion aus der Tasche und hielt sie ihr hin. Sie nahm sie, wich dabei jedoch meinem Blick aus. Ihre Hand zitterte
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