Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
leicht, als sie das Gesicht anstarrte.
»Ist das lebensecht?«
»Gesichtsrekonstruktion ist eine Kunst, keine Wissenschaft. Man kann nie genau sagen, wie realistisch das Ergebnis ist.«
»Sie haben das anhand eines Schädels gemacht?« Ihre Stimme zitterte leicht.
»Ja.«
»Die Haare stimmen nicht.«
»Sie erkennen das Gesicht wieder?«
»Amalie Provencher.«
»Sie kennen sie?«
»Sie arbeitet im Beratungszentrum.« Anna hielt den Blick abgewendet.
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Das ist schon ein paar Wochen her. Vielleicht länger, ich bin mir nicht sicher. Ich war eine Zeitlang nicht da.«
»Ist sie eine Studentin?«
»Was haben sie mit ihr gemacht?«
Ich zögerte, weil ich nicht so recht wußte, was ich ihr sagen durfte. Annas Stimmungsschwankungen ließen in mir den Verdacht aufkommen, daß sie entweder sehr labil war oder Drogen nahm.
Sie wartete meine Antwort nicht ab.
»Haben sie sie ermordet?« fragte sie.
»Wer, Anna? Wer ist ›sie‹?«
Nun sah sie mich endlich an. Ihre Pupillen funkelten im Kunstlicht.
»Sandy hat mir von der Unterhaltung mit Ihnen erzählt. Sie hatte recht, und sie hatte unrecht. Es gibt eine Gruppe hier auf dem Campus, aber sie hat nichts mit Satan zu tun. Und ich habe nichts mit der Gruppe zu tun. Ich weiß nur, daß Amalie sich den Job im Beratungszentrum besorgt hat, weil die es ihr befohlen haben.«
»Und dort haben Sie sie kennengelernt.«
»Ja.« Sie fuhr sich mit den Fingerknöcheln unter den Augen entlang und wischte sie sich an der Jeans ab.
»Wann?«
»Vor ein paar Jahren. Ich war damals ziemlich fertig, und ich dachte mir, ich könnte es ja mal mit Beratung versuchen. Immer wenn ich ins Zentrum kam, kam sie auf mich zu und redete mit mir, als würde sie sich wirklich um mich kümmern. Von ihr selbst oder ihren Problemen hat sie nie gesprochen. Sie hörte mir nur sehr aufmerksam zu. Wir hatten eine Menge gemeinsam, und so wurden wir Freunde.«
Ich erinnerte mich an Reds Worte. Werber erhalten den Auftrag, potentielle Mitglieder auszuhorchen, ihnen einzureden, daß sie viel gemeinsam hätten, und ihr Vertrauen zu gewinnen.
»Sie erzählte von dieser Gruppe, zu der sie gehörte, und daß sie ihr Leben völlig verändert hätte. Schließlich ging ich zu einem dieser Treffen. Es war ganz okay.« Sie zuckte mit den Achseln. »Jemand hielt einen Vortrag, es gab was zu essen, und wir haben Atemübungen und so Zeug gemacht. Es hat mich nicht gerade vom Hocker gerissen, aber ich ging noch ein paarmal hin, weil alle so taten, als würden sie mich wirklich mögen.«
Mit Liebe bombardieren.
»Und eines Tages haben sie mich aufs Land eingeladen. Es klang ziemlich gut, deshalb bin ich hingefahren. Wir haben Spiele gespielt, Vorträge angehört, gesungen und Übungen gemacht. Amalie hat es gefallen, aber für mich war es eigentlich nichts. Ich hielt das für einen Riesenhokuspokus, aber man konnte ja nicht widersprechen. Außerdem wurde man nie allein gelassen. Ich hatte keine Minute für mich.
Sie wollten, daß ich für einen längeren Workshop bleibe, und als ich nein sagte, waren sie eingeschnappt. Ich mußte ziemlich zickig werden, bis sie mich in die Stadt zurückgefahren haben. Danach bin ich Amalie aus dem Weg gegangen, aber hin und wieder sehe ich sie noch.«
»Wie heißt diese Gruppe?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Glauben Sie, daß diese Leute Amalie umgebracht haben?«
Sie wischte mit den Handflächen an den Außenseiten ihrer Jeans.
»Es gab einen Kerl, den ich da draußen kennengelernt habe. Er ist über einen Kurs irgendwo anders zu der Gruppe gekommen. Auf jeden Fall, als ich von dort wegfuhr, blieb er noch, und ich habe ihn lange nicht gesehen. Ein Jahr vielleicht. Dann habe ich ihn durch Zufall bei einem Konzert auf der Île Notre Dame wiedergetroffen. Wir waren eine Weile zusammen, aber es hat nicht funktioniert.« Wieder ein Achselzucken. »Damals hatte er die Gruppe schon verlassen, aber er hat einige ziemlich unheimliche Geschichten erzählt, die dort passiert sein sollen. Über das meiste wollte er allerdings gar nicht reden. Er war ziemlich durchgeknallt.«
»Wie hieß er?«
»John Irgendwas.«
»Wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, er ist weggezogen.« Sie wischte sich Tränen von den unteren Wimpern.
»Anna, hat Dr. Jeannotte etwas mit dieser Gruppe zu tun?«
»Warum fragen Sie das?« Beim letzten Wort versagte ihr die Stimme. Ich sah eine kleine blaue Ader an ihrem Hals pochen.
»Als ich Sie zum
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