Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
sie ist nirgendwo aufgetaucht. Vergessen Sie nicht, Brennan, ich bin auf mich allein gestellt. Der Sturm hat die ganze Provinz lahmgelegt.«
»Was haben Sie über Jennifer Cannon und Amalie Provencher herausgefunden?«
»Die Universität meint mal wieder, sie müsse die Vertraulichkeit studentischer Informationen wahren. Ohne Gerichtsbeschluß rücken die gar nichts raus.«
Das brachte bei mir das Faß zum Überlaufen. Ich schob mich an ihm vorbei und ging ins Schlafzimmer. Ich zog mir eben Wollsocken über, als er in der Tür erschien.
»Was haben Sie denn vor?«
»Ich werde mir Anna Goyette vorknöpfen, und danach suche ich meine Schwester.«
»Mutig, mutig. Da draußen liegt fingerdick Polareis.«
»Ich schaff das schon.«
»In einem fünf Jahre alten Mazda?«
Ich zitterte so sehr, daß ich meine Stiefel nicht binden konnte. Ich hielt inne, entwirrte den Knoten wieder und zog die Schnürsenkel sorgfaltig kreuzweise durch die Haken. Nachdem ich dasselbe am anderen Fuß geschafft hatte, stand ich auf und drehte mich Ryan zu.
»Ich werde nicht hier herumsitzen und zulassen, daß diese Fanatiker meine Schwester umbringen. Was die in ihrem selbstmörderischen Wahn auch vorhaben, meine Schwester nehmen sie nicht mit. Ich werde sie finden, Ryan, mit oder ohne Ihre Hilfe. Und zwar jetzt sofort.«
Eine volle Minute starrte er mich nur an. Dann atmete er tief ein und durch die Nase wieder aus und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
In diesem Augenblick flackerte das Licht und verlöschte.
33
Der Boden von Ryans Jeep war naß von geschmolzenem Eis. Die Scheibenwischer zuckten hin und her und ruckelten über vereiste Stellen. Durch die Fächer freigewischter Windschutzscheibe sah ich Millionen silbriger Splitter durch die Lichtkegel der Scheinwerfer trudeln.
Das Stadtzentrum war dunkel und verlassen. Keine Straßen- oder Häuserbeleuchtung, keine funktionierenden Ampeln. Die einzigen Autos, die ich sah, waren Polizeifahrzeuge. Gelbe Bänder sperrten den Bürgersteig vor Wolkenkratzern ab, um Verletzungen durch herabfallendes Eis zu verhindern. Ich fragte mich, wie viele Leute heute ernsthaft versuchen würden, zur Arbeit zu gehen. Hin und wieder hörte ich ein Krachen, dann zersplitterte eine Eisplatte auf dem Asphalt. Die Szene ließ mich an Fernsehberichte aus Sarajewo denken, und ich stellte mir vor, wie meine Nachbarn in kalten, dunklen Zimmern kauerten.
Ryan fuhr im Unwetter-Modus, die Schultern angespannt, die Hände fest am Lenkrad. Er fuhr langsam und gleichmäßig, beschleunigte sehr vorsichtig und ging weit vor Kreuzungen wieder vom Gas. Trotzdem brach das Heck öfters aus. Ryan hatte sich völlig zu Recht für den Jeep entschieden. Die Limousinen, die wir sahen, rutschten mehr, als sie fuhren.
Wir krochen die Rue Guy hoch und bogen nach Osten in die Docteur Penfield ein. Über uns erstrahlte das Montreal General Hospital dank des Stroms seines eigenen Generators. Mit der rechten Hand klammerte ich mich am Türgriff fest, die linke war zur Faust geballt.
»Es ist arschkalt. Warum ist das eigentlich kein Schnee?« blaffte ich. Anspannung und Angst machten sich jetzt deutlich bemerkbar.
Ryans Augen wandten sich keine Sekunde von der Straße ab.
»Nach den Radiomeldungen haben wir eine Inversionswetterlage, das heißt, in den Wolken ist es wärmer als auf dem Boden. Es fängt oben als Regen an, aber wenn es runterkommt, gefriert es. Das Gewicht des Eises legt ganze Kraftwerke lahm.«
»Und wann hört das auf?«
»Der Wettermann sagt, die Front hängt hier fest und bewegt sich nirgendwohin.«
Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Geräusche. Heißluftgebläse. Wischer. Pfeifender Wind. Mein hämmerndes Herz.
Das Auto schleuderte, und ich riß die Augen auf. Ich nahm die Rechte vom Griff und schaltete das Radio ein.
Die Stimme war ernst, aber beruhigend. Ein Großteil der Provinz war ohne Elektrizität, und HydroQuebec setzte dreitausend Beschäftigte zur Behebung der Schäden ein. Die Mannschaften arbeiteten rund um die Uhr, aber niemand konnte sagen, wann die Versorgung wiederhergestellt sein würde.
Der Transformator für die Innenstadt war wegen Überlastung ausgefallen, erhielt aber oberste Priorität. Die Kläranlage funktionierte ebenfalls nicht mehr, und den Einwohnern wurde empfohlen, Trinkwasser abzukochen.
Ziemlich schwierig ohne Strom, dachte ich.
Notunterkünfte waren eingerichtet worden, und die Polizei ging von Tür zu Tür, um hilflose Senioren aufzuspüren.
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