Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
aber keinen Ton heraus.
Dann bin ich im Inneren der Kirche, alles ist düster. Die Wände sind aus Stein, der Boden aus Lehm. Riesige, geschnitzte Fenster verschwinden in der Dunkelheit hoch über meinem Kopf. Durch die Scheiben sehe ich winzige Flocken, die verwehen wie Rauch.
Ich kann mich nicht erinnern, warum ich in die Kirche gekommen bin. Ich fühle mich schuldig, weil ich weiß, daß es wichtig ist. Jemand hat mich geschickt, aber ich weiß nicht mehr, wer.
Während ich durch die schwärzliche Dunkelheit gehe, senke ich den Kopf und sehe, daß meine Füße nackt sind. Ich schäme mich, weil ich nicht weiß, wo ich meine Schuhe gelassen habe. Ich will weg, aber ich kenne den Weg nicht. Ich habe das Gefühl, wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle, werde ich diesen Ort nie verlassen können.
Ich höre gedämpfte Stimmen und drehe mich in diese Richtung. Auf dem Boden ist etwas, aber es ist verschwommen, ein Bild, das ich nicht identifizieren kann. Ich gehe darauf zu, und die Schatten gerinnen zu verschiedenen Gegenständen.
Ein Kreis umhüllter Kokons. Ich starre sie an. Sie sind zu klein, um Menschenkörper zu sein, aber sie sehen aus wie Körper.
Ich gehe zu einem der Kokons und hebe eine Ecke an. Ein gedämpftes Summen dringt daraus hervor. Ich ziehe das Tuch zurück, Fliegen schwirren heraus und surren zum Fenster. Das Glas ist beschlagen, und ich sehe zu, wie sie sich darauf verteilen, obwohl ich weiß, daß es eigentlich zu kalt für sie ist.
Ich senke den Blick wieder zu dem Bündel. Ich beeile mich nicht, weil ich weiß, daß es keine Leiche ist. Tote werden nicht auf diese Art verpackt und angeordnet.
Aber es ist eine. Ich erkenne das Gesicht. Amalie Provencher starrt mich an, mit einem Gesicht wie eine Karikatur in Grautönen.
Dennoch kann ich mich nicht beeilen. Ich gehe von Bündel zu Bündel, wickle Gewebe auf und entlasse Fliegenschwärme in die Schatten. Die Gesichter sind weiß, die Augen starr, aber ich erkenne sie nicht. Bis auf eins.
Die Größe verrät es mir, bevor ich das Leichentuch öffne. Das Bündel ist so viel kleiner als die anderen. Ich will es nicht sehen, aber ich kann auch nicht aufhören.
Carlie liegt auf dem Bauch, die Händchen zu Fäustchen geballt.
Dann sehe ich zwei andere, nebeneinander im Kreis.
Ich schreie auf, aber wieder kommt kein Ton.
Eine Hand schließt sich um meinen Arm. Ich sehe meine Führerin. Sie ist verändert, oder einfach nur deutlicher sichtbar.
Es ist eine Nonne, ihre Kutte ausgefranst und mit Schimmel bedeckt. Wenn sie sich bewegt, höre ich das Klappern von Rosenkranzperlen und rieche feuchte Erde und Verwesung.
Ich stehe auf und sehe in ein kakaobraunes Gesicht voller eiternder, roter Wunden. Ich weiß, daß es Élisabeth Nicolet ist.
»Wer bist du?« Ich denke die Frage, aber sie antwortet.
»Umhüllt mit purpurdunklem Kleid.«
Ich verstehe nicht.
»Warum bist du hier?«
»Ich komme als Christi unwillige Braut.«
Dann sehe ich eine andere Gestalt. Sie steht in einer Nische, mattes Schneelicht trübt ihr Gesicht und färbt ihre Haare glanzlos grau. Ihr Blick trifft meinen, und sie spricht, aber ich verstehe ihre Worte nicht.
»Harry!« schreie ich, aber meine Stimme ist dünn und schwach.
Harry hört mich nicht. Sie streckt beide Arme aus, und ihr Mund bewegt sich, ein schwarzes Oval im Gespenst ihres Gesichts.
Wieder schreie ich, aber es kommt kein Ton hervor.
Sie spricht noch einmal, und ich höre sie, obwohl ihre Worte weit weg sind, wie Stimmen, die übers Wasser wehen.
»Hilf mir. Ich sterbe.«
»Nein!« Ich will laufen, aber meine Beine bewegen sich nicht.
Harry betritt einen Gang, der mir zuvor nicht aufgefallen ist. Darüber erkenne ich eine Inschrift. Ange Gardien. Schutzengel. Sie wird zum Schatten, verschmilzt mit der Dunkelheit.
Ich rufe, aber sie dreht sich nicht um. Ich versuche, zu ihr zu gehen, aber mein Körper ist erstarrt, nichts bewegt sich außer den Tränen, die mir über die Wangen rinnen.
Meine Begleiterin verwandelt sich. Dunkelgefiederte Flügel wachsen ihr aus dem Rücken, ihr Gesicht wird blaß und tief gefurcht. Ihre Augen erstarren zu Stein. Während ich in diese Augen starre, werden die Iriden klar, und die Farbe weicht aus Brauen und Wimpern. Eine weiße Strähne erscheint in ihren Haaren und wächst nach hinten, löst einen Streifen Kopfhaut ab und wirft ihn hoch in die Luft. Das Gewebe flattert zu Boden, die Fliegen kommen vom Fenster zurück und setzen sich darauf.
»Die neue Ordnung darf
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