Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
auf seinen Wimpern schmolz und tropfte herab. Er wischte sich das Auge.
»Das ergibt einen Sinn. Ange Gardien. Schutzengel. Es ist ein Ort, keine Person. Dort wollen sie sich treffen. Dürften von hier aus etwa fünfundvierzig Minuten sein. Wie sind Sie drauf gekommen?«
Von dem Traum wollte ich ihm nichts erzählen. »Mir ist eingefallen, daß ich das Schild auf der Fahrt nach Memphrémagog gesehen habe. Fahren wir.«
»Brennan –«
»Ryan, ich sage dies nur noch ein einziges Mal. Ich hole meine Schwester da raus.« Ich bemühte mich, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Mit oder ohne Ihre Hilfe. Entweder Sie bringen mich heim, oder Sie fahren mich dorthin.«
Ein kurzes Zögern, dann: »Scheiße!« Er stieg aus, klappte den Sitz nach vorne und wühlte im Fond. Als er die Tür zuknallte, sah ich, daß er etwas in seine Tasche steckte und den Reißverschluß hochzog. Dann kratzte er weiter.
Kurz darauf saß er wieder im Auto. Ohne ein Wort schnallte er sich an, legte den Gang ein und gab Gas. Die Räder drehten sich, aber wir bewegten uns nicht. Er schaltete in den Rückwärtsgang, dann schnell wieder in den ersten. Das Auto schaukelte, während Ryan mehrmals so zwischen den Gängen hin- und hersprang. Schließlich bekam der Jeep Bodenhaftung, und wir zockelten den Block entlang.
Ich schwieg, als wir auf der Christophe Colomb nach Süden krochen, dann auf der Rachel nach Westen. An der St. Denis bog Ryan nach Süden ab und fuhr den Weg zurück, den wir gekommen waren.
Verdammt! Er brachte mich nach Hause. Mich schauderte, als ich an die Fahrt nach Ange Gardien dachte.
Ich schloß die Augen und lehnte mich zurück, um mich darauf vorzubereiten. Du hast Schneeketten, Brennan. Du montierst sie, und dann fährst du so, wie Ryan es jetzt tut. Dieser Mistkerl Ryan.
Stille drängte sich in mein Selbstgespräch. Als ich die Augen öffnete, war es pechschwarz um mich herum. Kein Eis prasselte mehr auf die Windschutzscheibe.
»Wo sind wir?«
»Im Ville-Marie-Tunnel.«
Ich sagte nichts, Ryan raste durch den Tunnel wie ein Raumschiff durch ein Wurmloch im All. Als er die Ausfahrt zur Champlain Bridge nahm, empfand ich sowohl Erleichterung als auch Angst.
Ja! Ange Gardien.
Eine Ewigkeit später überquerten wir den St. Lawrence. Der Fluß wirkte unnatürlich dicht, die Gebäude der Île des Soeurs ragten schwarz in den frühmorgendlichen Himmel. Die Anzeigentafeln der Konzerne waren abgeschaltet, aber ich kannte die Namen. Nortel. Kodak. Honeywell. So normal. So vertraut in meiner Welt am Ende des zweiten Jahrtausends. Ich wünschte mir, unser Ziel wäre eins ihrer wohlgeordneten Büros und nicht der Wahnsinn, der vor uns lag.
Die Atmosphäre im Jeep war gespannt. Ryan konzentrierte sich auf die Straße, und ich bearbeitete meinen Daumennagel. Ich starrte zum Fenster hinaus und versuchte nicht daran zu denken, was uns wohl erwartete.
Wir krochen durch eine kalte, abweisende Landschaft, ein Anblick wie von einem Eisplaneten auf die Erde gebeamt. Je weiter wir nach Osten kamen, um so dicker wurde das Eis, es raubte der Welt Struktur und Farbe. Kanten verschwammen, und Gegenstände schienen miteinander zu verschmelzen, wie Teile einer riesigen Gipsskulptur.
Wegweiser, Schilder und Reklametafeln waren verhüllt, Botschaften und Grenzen getilgt. Hier und dort sah man Rauch aus Kaminen in die Dunkelheit steigen, ansonsten wirkte alles erstarrt. Kurz hinter dem Richelieu River machte die Straße eine Kurve, und ich sah ein havariertes Auto, das auf dem Dach lag, bewegungsunfähig wie ein Käfer auf dem Rücken. Eiszapfen hingen von Stoßstangen und Reifen.
Wir waren schon fast zwei Stunden unterwegs, als ich das Schild entdeckte. Es dämmerte, aus dem Schwarz des Himmels wurde ein trübes Grau. Durch das Eis konnte ich einen Pfeil und die Buchstaben nge Gardi erkennen.
»Da.«
Ryan ging vom Gas und rollte auf die Ausfahrt. Als diese an einer T-Kreuzung endete, stieg er auf die Bremse, und der Jeep kam knirschend zum Stehen.
»Welche Richtung?«
Ich nahm den Eiskratzer, stieg aus und schlitterte auf das Schild zu, nicht ohne einmal auszurutschen und mir das Knie anzuschlagen. Während ich hackte und kratzte, fuhr mir der Wind in die Haare und trieb mir Eispartikel in die Augen. Über mir pfiff er durch Äste und riß an Stromleitungen, die merkwürdig knatternde Geräusche von sich gaben.
Wie eine Wahnsinnige hieb ich auf das Eis ein. Irgendwann zerbrach die Klinge, aber ich hackte und hackte, bis das Plastik
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